Interview

„Viele haben Todesängste“

Gründe für eine Impfverweigerung gibt es viele. Einer davon kann eine krankhafte Angst vor Blut, Spritzen und Verletzungen sein. Die Psychiaterin Prof. Dr. Angelika Erhardt behandelt betroffene Menschen und weiß um deren Verzweiflung, gerade in Corona-Zeiten.

Frau Professor Erhardt, wie viele Menschen in Deutschland leiden unter einer Blut-, Spritzen- und Verletzungsphobie?
 
Angelika Erhardt: Schätzungen zufolge sind drei Prozent der Bevölkerung betroffen, also schon eine beträchtliche Zahl. Eine sehr ausgeprägte Angst vor Spritzen besteht häufig im Kindesalter. In den meisten Fällen wächst sie sich aus. Doch bei einem Teil der Menschen wird sie krankhaft. Dafür gibt es auch einen ICD-10-Code. Jüngere Leute sind häufiger von der Phobie betroffen als ältere.

Porträt von Prof. Dr. Angelika Erhardt, Oberärztin und Leiterin der Ambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie am Münchner Max-Planck-Institut für Psychotherapie

Zur Person

Prof. Dr. Angelika Erhardt ist Oberärztin und leitet die Ambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie am Münchner Max-Planck-Institut für Psychotherapie.

Was zeichnet das Krankheitsbild aus?

Erhardt: Es geht in der Regel um eine sehr starke Angst vor Verletzungen durch die Spritze. Dazu gehören Impfungen und Blutabnahmen. Im Wesentlichen ist es das Durchdringen der Nadel durch die Haut und der gefühlte Kontrollverlust in dem Moment, der Angst macht. Bei den Patienten existieren zudem viele Fantasien, was bei der Injektion schiefgehen könnte, etwa dass Blutgefäße und Muskeln verletzt werden. Sie malen sich auch aus, was insgesamt Schlimmes mit dem Körper geschehen könnte. Andere belastet der Schmerz, einige können kein Blut sehen. Häufig kommt alles zusammen.

Wie äußert sich die Angst?

Erhardt: Falls ein Termin etwa zu einer Impfung ausgemacht worden ist, besteht bei den Betroffenen meist schon Tage vorher eine massive Angst, teilweise mit Schlafstörungen. Die Gedanken kreisen ständig um die Impfung. Die Angst baut sich immer weiter auf. Und in der Situation selbst kommt es dann zu schlimmen Panikattacken. Viele haben Todesängste. Einige fallen wirklich in Ohnmacht.

Welche Auswirkungen hat die Phobie auf das Leben der Betroffenen?

Erhardt: Die meisten sind zwar als Kind geimpft worden, doch im Erwachsenenalter lassen sich viele nicht mehr oder nur spärlich impfen. Wichtige Immunisierungen finden dadurch nicht statt. Die Betroffenen vermeiden insgesamt Arztbesuche, weil es zu einer Blutabnahme oder anderen Eingriffen per Spritze kommen könnte. So besteht die Gefahr, dass Krankheiten verschleppt oder zu spät entdeckt werden. Auch Zahnarztbesuche werden vernachlässigt. Manche wiederum lassen Impfungen über sich ergehen und ertragen die starke Angst mit Hängen und Würgen. Die Betroffenen machen sich auch große Sorgen, dass sie mal ins Krankenhaus müssen.

Durch die Angst vor Spritzen finden wichtige Arztbesuche oft nicht statt.

Zurzeit haben Sie großen Zulauf?

Erhardt: Bei der Hälfte unserer Patienten geht es im Moment darum, dass sie wegen Corona unter zunehmenden Druck geraten, aber das Gefühl haben, sich nicht impfen lassen zu können. Jeden Tag erhalten wir dazu Anfragen aus der ganzen Republik. Wir behandeln aber vor allem Münchner, weil es ein Expositionsprogramm vor Ort ist und die Behandlung nicht per Video funktioniert. Einige der Patienten haben mit großer Überwindung die erste Covid-Impfung noch hinbekommen, aber für die zweite fehlt die Kraft. Unser verhaltenstherapeutisches Kurzprogramm soll in sechs Sitzungen für positive Erfahrungen sorgen. Auch wenn am Schluss die negativen Gefühle nicht komplett weg sind, so sollen die Menschen zumindest ihre Angst managen können. Wir bestellen selbst Vakzine und am Ende soll eine Impfung gegen Corona stehen. Unser Programm verschafft die Grundlage. Wenn jemand danach noch eine Therapie braucht, kann er bei einem niedergelassenen Therapeuten weiterarbeiten. Auch Angstambulanzen bieten Hilfe.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: privat