Interview

„Gutes Sehen ist ein Grundrecht“

Obdachlose Menschen sind selten krankenversichert und haben keine finanziellen Mittel für eine Sehhilfe. Die gemeinnützige Organisation „Mehrblick“ bietet ihnen kostenlose Brillen-Sprechstunden an. Gründerin Christiane Faude-Großmann erläutert, wie dies funktioniert.

Frau Faude-Großmann, seit wann versorgt „Mehrblick“ obdachlose Menschen mit Sehhilfen?

Christiane Faude-Großmann: Die Idee entstand 2015. Damals arbeitete ich für das Diakonische Werk Hamburg. Ich fuhr im Mitternachtsbus mit, der Bedürftige versorgt. Dort hatte ich das erste Mal direkten Kontakt mit obdachlosen Menschen. Mir fiel auf, dass viele von ihnen schlecht sehen und seit langem nicht beim Augenarzt oder Optiker waren. Ich habe daraufhin recherchiert und festgestellt, dass es zwar zahlreiche Angebote für diese Zielgruppe gibt, jedoch keine zur Augengesundheit. Das war 2016 die Initialzündung für unsere gemeinnützige Organisation. Inzwischen haben wir fast 3.500 Brillen verteilt.

Porträt von Christiane Faude-Großmann, Gründerin von

Zur Person

Christiane Faude-Großmann ist Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation „Mehrblick – Brillen für Obdachlose und Bedürftige“.

Wie kommen obdachlose Menschen zur passenden Brille?

Faude-Großmann: In unserer Brillensprechstunde machen ehrenamtliche Augenoptiker Sehtests und gehen dafür direkt in Obdachloseneinrichtungen. Dort ist die Hemmschwelle nicht so groß, sich untersuchen zu lassen, zumal wir auch keine Daten erheben. Wer kommt, wird versorgt. Nach der Messung suchen wir direkt vor Ort die bestmögliche Brille aus. Das sind in rund 90 Prozent der Fälle Brillen aus unserem mobilen Lager, also gespendete getragene Brillen, die wir recyceln.

Wie werden die Brillen finanziert?

Faude-Großmann: Unsere Brillen-Sprechstunden sind nur durch finanzielle Unterstützung unserer Spender möglich. Denn Benzin, Telefon und drei Mitarbeiter kosten Geld. Generell würde ich mir wünschen, dass bedürftige Menschen einfacher und kostengünstiger eine Sehhilfe bekommen könnten.

Wohin können Menschen ohne Wohnsitz gehen, wenn sie einen Augenarzt brauchen?

Faude-Großmann: In Hamburg arbeiten wir mit der „Praxis ohne Grenzen“ zusammen, in der auch Augenärzte tätig sind. Sie behandeln Menschen ohne Krankenversicherung. Insgesamt gibt es zu wenige Augenärzte, die eine Versorgung für obdachlose Menschen anbieten. Hier würden wir uns mehr Beteiligung wünschen.

Eine verbesserte Sehfähigkeit fördert die Teilhabe.

Was bewirkt Ihre Arbeit im Alltag der Menschen?

Faude-Großmann: Viele obdachlose Menschen haben Angst, dass sie eine Augenkrankheit haben oder erblinden. Diese Befürchtungen können wir ihnen in unserer Brillensprechstunde nehmen. Durch die Brille sind sie wieder in der Lage, sich um ihre Belange zu kümmern, etwa einen Antrag im Jobcenter auszufüllen. Auch für Körperpflege und Gesundheit ist eine Sehhilfe wichtig. Die Betroffenen sehen sich wieder genauer im Spiegel oder können Beipackzettel von Medikamenten leichter lesen. Gleichzeitig werden soziale Kontakte intensiviert.

Existieren ähnliche Initiativen auch über Hamburg hinaus im gesamten Bundesgebiet?

Faude-Großmann: Wir bieten regelmäßig drei- bis fünfmal im Monat Sprechstunden in Hamburg, Berlin und Hannover an. Wir arbeiten mit 27 verschiedenen Obdachloseneinrichtungen zusammen. Unser Team besteht aus 33 Ehrenamtlichen, davon sind 27 Optiker. In diesem Umfang ist mir bisher nichts Vergleichbares bekannt. Das sollte sich ändern, denn gutes Sehen ist ein Grundrecht.

Stefanie Roloff führte das Interview. Sie ist freie Journalistin in Berlin.
Bildnachweis: Elfriede Liebenow Fotografie