G+G-Wissenschaft

Kopernikus lässt grüßen

Corona zeigt es: Wir sind alle verwundbar, wenn auch nicht im gleichen Maße. Drei Analysen beleuchten den allgemeinen Wissensstand zur Vulnerabilität, die Entwicklung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und die aktuelle Situation von Kindern. Von Ines Körver

Stiko-Bashing,

also das Herumhacken auf der Ständigen Impfkommission, ist im Verlauf der Corona-Pandemie Mode geworden. Im Dezember 2021 gab es erneut eine entsprechende Welle, die wievielte ist nicht ganz klar. Dem Gremium wird immer wieder vorgeworfen, es entscheide zu langsam und sei zu defensiv in seinen Bewertungen.

Ohne auf die Vorwürfe und ihre Berechtigung im Einzelnen eingehen zu wollen: Einem Teil der Kritiker merkt man an, dass er eigentlich keine Vorstellung davon hat, wofür die Stiko zuständig ist, was sie von einer Zulassungsbehörde unterscheidet, wie sie arbeitet und wie Wissenschaft im Allgemeinen funktioniert. Mancher Nörgler versteht (teilweise augenscheinlich absichtlich) nicht, dass man bisweilen auf Daten warten muss, dass die Auswertung von Analysen Zeit braucht und dass Einschätzungen nach Vorliegen neuer Erkenntnisse auch mal revidiert werden müssen. Dieser gängigen wissenschaftlichen Praxis verdanken wir unter anderem das kopernikanische Weltbild.

Interessante Fragen, die man im Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung der Stiko sehr wohl stellen kann, werden bei den Attacken regelmäßig außen vorgelassen, etwa auf welcher Basis denn die Entscheidungen zustande kommen und ob das gut so ist. Für eine Impfempfehlung kann es zum Beispiel durchaus wichtig sein, ob man eher das Individuum oder die Gesellschaft in den Blick nimmt – die Stiko versucht übrigens nach Aussagen ihres Chefs Thomas Mertens, beides.

Damit es nicht so abstrakt klingt, hier ein Beispiel, das zeigt, dass es dabei keinesfalls um Peanuts geht: Stellen wir uns vor, wir hätten gerade eine Pandemie, der Erreger hieße Vir, ein Impfstoff für Erwachsene namens VirExSenior sei bereits von der Stiko empfohlen, und das Gremium müsse nun entscheiden, ob es den Kinderimpfstoff VirExJunior empfehle. Nehmen wir weiter an, nach vertrauenswürdigen Modellrechnungen richte eine Vir-Infektion bei den Jüngeren keinen bleibenden Schaden an und die VirExJunior-Impfung von 10.000 Kindern rette einem von 10.000 erwachsenen Infizierten das Leben, füge aber einem der 10.000 jungen Impflinge einen nennenswerten Schaden zu.

Wie soll die Stiko hier entscheiden, soll sie VirExJunior empfehlen oder nicht? Betrachtet man allein die möglichen Gefahren für die Kinder, ist die Antwort klar: nicht empfehlen. Betrachtet man nur oder vor allem die Gesellschaft, kann man zu einem anderen Ergebnis kommen.

Dass ein Perspektivwechsel

eine gesundheitspolitische Diskussion befruchten kann, zeigt sich auch in den Analysen der aktuellen G+G-Wissenschaft. Bei der Bezeichnung des Schwerpunktthemas hatte es die Redaktion diesmal nicht leicht, kreist das Heft doch um den Komplex soziale Ungleichheit und ihre Folgen, Vulnerabilität, Sozialmedizin sowie New Public Health. Aus Prägnanzgründen hat sich die Redaktion für den Titel Vulnerabilität entschieden.  

In der ersten Analyse fassen Andreas Mielck und Verina Wild zusammen, was über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit bislang bekannt ist. Dabei adressieren die Autoren auch so grundlegende Fragen wie: „Welche Ungleichheit ist denn überhaupt ungerecht und damit letztlich interventionspflichtig?“ State of the Art ist nach Ansicht des Autorenduos ein Health-in-All-Ansatz, also ein Mitdenken von Gesundheit in jedem (politischen) Handlungsfeld. Mielck und Wild machen zudem einen ersten Aufschlag für ein Schema, mit dem sich Bereiche mit Interventionsbedarf identifizieren und Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit vulnerabler Gruppen festlegen lassen.

Auch Thomas Altgeld plädiert in seinem Beitrag für eine andere Betrachtungsweise. Er analysiert die Pläne zur Neuaufstellung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) vom Pakt für den ÖGD bis hin zu den einschlägigen Passagen im Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen. Sein Resümee: Die Entscheider und einige Akteure im ÖGD-System suchen ihr Heil in einem längst überholten Mehr desselben und verpassen die Chance, den ÖGD zu einem modernen Beförderer der Volksgesundheit vor Ort zu machen.

Zuletzt widmet sich das Team um Eike Quilling und Anna Lena Rademacher einer vulnerablen und eben schon angesprochenen Gruppe, die besonders unter der Pandemie gelitten hat: den Kindern. Das fünfköpfige Kollektiv zeigt auf, woran es hapert und was es zu tun gilt. Auch hier wird wieder für einen Health-in-All-Ansatz geworben.

Wie es gesundheitspolitisch konkret weitergehen soll, wird übrigens im Mittelpunkt der nächsten Ausgabe der G+G-Wissenschaft stehen. Diese wird sich mit dem Koalitionsvertrag und den darin für die nächsten Jahre aufgezeigten Perspektiven befassen.