Interview

„Gesundheitsversorgung gehört in staatliche Hand“

Kommunale Kliniken betreiben keine Rosinenpickerei, meint Claudia Bernhard. Doch die Linken-Politikerin sieht zugleich großen Reformbedarf – nicht nur bei den Krankenhausstrukturen, sondern auch in der ambulanten Versorgung, die sie stärker in Gesundheitszentren verlagern will.

Frau Senatorin, Bremen ist bei der Impfquote bundesweit Champion. Anfang Januar hat Bremen aber auch bei den Corona-Neuinfektionen einen der Spitzenplätze erreicht. Wie passt das zusammen?

Claudia Bernhard: Die hohe Inzidenz hängt auch damit zusammen, dass wir über die Weihnachtsferien hinweg Personal aufgestockt haben, um der Meldepflicht nachkommen zu können. Wir hatten also im Gegensatz zu anderen Bundesländern bei der Datenlage keine Rückstände. Inzwischen sind die Corona-Zahlen bundesweit und im europäischen Ausland stark gestiegen. Die hohe Impfquote führt dazu, dass nicht so viele Corona-Patienten schwer erkranken. Ein Großteil der Corona-Patienten in Kliniken, insbesondere auf den Intensivstationen, ist nicht geimpft.

Porträt von Claudia Bernhard, Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz in Bremen

Zur Person

Claudia Bernhard, Jahrgang 1961, ist seit August 2019 Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz in Bremen. Die Politikwissenschaftlerin trat 2007 in die Partei „Die Linke“ ein und war von 2007 bis 2011 im Landesvorstand der Partei. Von 2011 bis 2019 war Bernhard Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und Sprecherin für Arbeit, Bau, Wohnen, Frauen und Landwirtschaft. Sie hat zwei Kinder und wohnt seit 1991 in Bremen.

Sie haben eine bessere Datenlage als andere Bundesländer?

Bernhard: Ja, wir haben den Vorteil der kurzen Wege, sind komplett à jour. Die Gesundheitsämter arbeiten hier mit der Software Sormas und haben in der SurvNet-Bedienung zur Meldung der Daten an das Robert-Koch-Institut eine gute Ausgangsposition. Das Faxen haben wir längst abgeschafft. Aber die Datenvernetzung in der gesamten Bundesrepublik lässt nach wie vor zu wünschen übrig.

Wie haben Sie in Bremen die hohe Impfquote erreicht?

Bernhard: Wir haben sehr früh auf Information, Niedrigschwelligkeit und Aufklärung in unseren Stadtteilen gesetzt. Da, wo Menschen beengt wohnen und in prekären Zusammenhängen leben, ist die Inzidenz deutlich höher. Wir haben dort Gesundheitsfachkräfte eingesetzt und kontinuierlich Vor-Ort-Impfungen angeboten und damit den Zugang erleichtert. Wir haben bei der Gesundheitsversorgung einen sozialen Gap. Das geht von den Krankheitsbildern bis hin zur Lebenserwartung und betrifft eben auch das Impfen. Deswegen war es uns wichtig, dass wir vor Ort Menschen haben, die sich darum kümmern und weiterhin ansprechbar sind. Ein wichtiger Zugang ist immer auch die Mehrsprachigkeit. In den Impfbussen arbeiten viele Menschen aus dem Umfeld von migrantischen Communities. Das ist eine vertrauensbildende Maßnahme, die wir fürs Impfen brauchen.

Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit der Bundesländer in der Pandemie und darüber hinaus?

Bernhard: Unter den Gesundheitsministerinnen und -ministern der Länder ist die Zusammenarbeit sehr gut. Die Diskussion ist sachlich und problembezogen. Je höher die Ebene, desto mehr spielen politische Beweggründe eine Rolle. Auf der Arbeitsebene gibt es einen kooperativen Austausch. Der geht nicht immer nur nach Parteifarbe, sondern danach, wer welche Problematiken zu bewältigen hat. So hat uns Niedersachsen beispielsweise Impfstoff zur Verfügung gestellt, als er in Bremen knapp wurde.

Kurz nach Ihrem Amtsantritt Ende 2019 hat die Pandemie begonnen. Welche anderen Aufgaben sind dadurch liegengeblieben?

Bernhard: Die Pandemie hat bei den anderen Aufgaben aufs Tempo geschlagen. Die Krankenhausplanung hätte ich gerne schon 2020 oder 2021 abgeschlossen. Das werden wir erst jetzt schaffen. Auch in der Psychiatriereform haben wir etwas an Geschwindigkeit verloren. Wir wollen in die ambulante Versorgung umsteigen, um die psychiatrische Versorgung mehr in den Stadtteilen anzusiedeln.

Wo sehen Sie den Hauptänderungsbedarf in der Krankenhausstruktur? Welche Wege will Bremen hier gehen?

Bernhard: Zunächst geht es darum, bei den zehn Krankenhäusern in der Stadtgemeinde Bremen Kassensturz machen: Welche sind Maximalversorger? Welche versorgen die Stadtteile? Was haben die in ihrem Portfolio? Wie müssen wir zentralisieren, was müssen wir dezentralisieren? Wir wissen, dass wir in bestimmten Stadtteilen Arztpraxen nicht mehr besetzen können und machen uns Gedanken über Alternativen. Wir wollen Gesundheitszentren eröffnen, die niedrigschwellig ambulante Angebote machen: von der kassenärztlichen Versorgung über Hebammen-Leistungen bis hin zur Beratungsstelle. Eine komplizierte Nierentransplantation oder ein Herzeingriff können hingegen zentral angeboten werden. In Bremen sind die Voraussetzungen günstig. Wir haben nur einen sehr kleinen privatisierten Bereich in der Krankenhauslandschaft. Die stationäre Versorgung ist im Wesentlichen in den Händen des kommunalen Klinikkonzerns Gesundheit Nord und der freigemeinnützigen Träger. Mir ist daran gelegen, dass wir alle im Boot behalten.

Welche Vorteile hat eine kommunale Trägerschaft gegenüber einer privaten – angesichts der Millionendefizite beim Bremer Klinikverbund?

Bernhard: Die kommunalen Häuser können keine Rosinenpickerei betreiben. Unser kommunaler Klinikverbund steht zur Verfügung, wenn alle anderen zugemacht haben. Gesundheitsversorgung gehört soweit wie möglich in staatliche Hand. Aber auch ein kommunaler Träger muss wirtschaftlich denken. Allerdings geht es hier nicht um Profit, sondern darum, dass die Kliniken keine exorbitanten Zuschüsse brauchen. Das Land müsste Millionenbeträge investieren, um den Investitionsstau zu beseitigen. Auch wenn wir alle Standorte erhalten, ließe sich einiges stringenter organisieren. Ein Teil der insgesamt 2.800 Betten ist nicht mehr notwendig, aber der Aufbau von ambulanten Strukturen.

Wie ließe sich die sektorenübergreifende Zusammenarbeit verbessern?

Bernhard: Wir müssten so etwas wie kommunale Polikliniken einrichten, die eine Mischung aus allem darstellen. Wir werden uns von bestimmten Strukturen verabschieden müssen. Die Planung der kassenärztlichen Vereinigung verhindert nicht, dass sich in wohlhabenden Stadtteilen mehr Ärztinnen und Ärzte niederlassen als dort, wo ärmere Menschen wohnen. Da würde ich als Gesundheitssenatorin gern stärker regulierend einwirken.

Was leistet Bremen in Bezug auf die gesundheitliche Chancengleichheit?

Bernhard: Das Impfen ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir den Zugang zur Gesundheitsversorgung in schwierigen Stadtteilen erleichtern können. Das erhöht Chancengleichheit. Wir sollten in möglichst vielen Stadtteilen Gesundheitszentren etablieren. Das ist ein Prozess, der auf vorhandenen Strukturen aufbauen muss. Zu fragen ist: Können Hausärztinnen und -ärzte sowie Kinderärzte ihre Leistungen im Gesundheitszentrum anbieten? Gibt es entsprechende psychotherapeutische Angebote? Wer ist bereit, sich in einem Gesundheitszentrum anzusiedeln?

Was wollen Sie bis zum Ende Ihrer Amtszeit unbedingt schaffen?

Bernhard: Ich hoffe, dass wir zumindest die Grundstrukturen für eine gute Krankenhausentwicklung in Bremen aufbauen. Wir sollten diese Kooperation so aufstellen, dass alle eine Perspektive haben. Ich würde gern mindestens zwei oder drei Gesundheitszentren auf die Schiene setzen. Wir haben es geschafft, das Gesundheitsamt in Bremen wieder besser auszustatten. Jetzt müssen wir es weiter mit Personal unterfüttern, damit wir die Stadtteilversorgung signifikant verbessern. Nicht zuletzt müssen wir auch die Corona-Impfungen weiter vorantreiben.

Wenn Sie an Ihre eigenen Arztbesuche denken oder an die medizinisch-pflegerische Versorgung in der Familie – welche Schulnote würden Sie dem deutschen Gesundheitssystem geben?

Bernhard: Ich habe das große Glück, dass ich zuletzt vor Jahrzehnten als Patientin im Krankenhaus war und auch selten zum Arzt muss. Meine Hausärztin und die Zahnärztin kenne ich seit fast 30 Jahren, und damit ist mein Bedarf abgedeckt. Was mich persönlich anbelangt, gibt es eine Zwei. Das gesamte Gesundheitssystem bezogen auf die Ausstattung, wie ich es jetzt als Senatorin kennengelernt habe, liegt aus meiner Sicht zwischen Drei und Vier.

Mit Drei oder Vier sind viele bei ihren Kindern nicht zufrieden.

Bernhard: Wenn Patienten für einen Facharztbesuch in der Warteschleife hängen, finde ich das erschütternd. Menschen, die sozial durchs Rost fallen, haben häufig gar keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Im Jugend- und Kinderpsychiatriebereich gibt es Versorgungsdefizite. Wenn ich das im Geiste durchgehe, ergibt das allenfalls eine schlechte Drei. Auf der einen Seite beeindrucken mich Menschen, die gerade jetzt in der Pandemie mit hoher Motivation arbeiten und durchhalten, weil sie sich mit ihrem Beruf identifizieren. Andererseits stellen wir ihnen zu wenig Ressourcen zur Verfügung – das fällt unangenehm auseinander. Allerdings muss ich auch sagen: Ohne unseren kommunalen Klinikverbund hätten wir diese Pandemie niemals bewältigt. Deswegen gilt aus meiner Sicht: Jegliche Privatisierung im Gesundheitssystem ist von Übel.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: Gesundheitsressort Bremen