Interview

„Lob fühlt sich falsch an“

Eine Beförderung, ein gelungener Abschluss eines Projekts, Lob vom Chef – Erfolgserlebnisse geben meist Rückenwind. Manche Menschen setzt Anerkennung jedoch unter Druck. Sie leiden unter dem Hochstaplersyndrom, wie die Ärztin Dr. Michaela Muthig erläutert.

Frau Dr. Muthig, was ist das Hochstaplersyndrom?

Michaela Muthig: Es handelt sich um ein Phänomen, bei dem kompetente und erfolgreiche Menschen nicht von ihren Fähigkeiten überzeugt sind. Sie denken von sich, dass sie nicht gut genug sind und fühlen sich wie Hochstapler, die nur so tun als ob. Mit jeder Anerkennung und jeder Beförderung wird das Problem schlimmer. Die Betroffenen fühlen sich immer mehr wie Betrüger, haben Angst aufzufliegen – und erkennen dabei gar nicht, dass sie wirklich sehr gut sind.

Porträt von Manuela Muthig, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik

Zur Person

Dr. Michaela Muthig ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik und war unter anderem Oberärztin an der Uniklinik Tübingen. Seit 2019 arbeitet die Buchautorin als Online-Coach.

Wie viele Menschen sind schätzungsweise betroffen?

Muthig: Es gibt mehrere Umfragen zu dem Thema. In einer davon haben bis zu 70 Prozent der Befragten angegeben, sie hätten zumindest zeitweise solche Hochstapler-Gefühle gehabt. Andere Umfragen geben eine Häufigkeit von etwa 40 Prozent an. Auf jeden Fall sind mehr Menschen betroffen als man denkt. Das Hochstaplersyndrom ist weit verbreitet.

Warum können Betroffene ihre Leistung und ihre Erfolge nicht anerkennen?

Muthig: Weil die falsche Grundüberzeugung, nicht gut genug zu sein, zu tief sitzt. Ihre Erfolge führen die Betroffenen nicht auf ihre eigene Leistung zurück, sondern sie denken, sie hätten nur Glück gehabt oder dass andere Gründe vorliegen. Zum Beispiel: „Der wollte nur nett sein“ oder „Ich wurde bestimmt nur ausgesucht wegen der Frauenquote“. Dadurch wächst die Angst vor der nächsten Herausforderung, weil sie befürchten, dann kein Glück mehr zu haben und die hohen Erwartungen zu enttäuschen. Meist sind es Denkmuster aus der Kindheit, die uns ausbremsen – beispielsweise die Annahme, immer perfekt sein zu müssen und nie Fehler machen zu dürfen. Aber etwa auch die Überzeugung, wahres Talent brauche keine Arbeit, kann eine Rolle spielen. Ein Lob fühlt sich dann irgendwie falsch an und ist verbunden mit dem Gefühl, die Anerkennung nicht zu verdienen.

Meist sind es Denkmuster aus der Kindheit, die uns ausbremsen.

Welche negativen Folgen hat das Phä­no­men für die Betroffenen?

Muthig: Durch den steigenden Erfolgs- und Leidensdruck kann es zu psychischen und körperlichen Erkrankungen kommen, wie hohem Blutdruck, Schlaflosigkeit, Depressionen oder Angststörungen. Zudem sinkt der Selbstwert immer weiter. Der Stress, unter dem die Betroffenen stehen, kann die Beziehung belasten. Nicht selten findet der Betroffene in der Freizeit keine Erholung mehr, weil er zu sehr unter Strom steht und der Arbeit einen zu großen Fokus einräumt. Beruflich bleiben diese Menschen unter ihren Möglichkeiten, sie schlagen eine Beförderung aus, ergreifen Karrierechancen nicht. Oder, falls sie sich doch auf die größere Verantwortung einlassen, leiden sie zunehmend unter Stress, sodass sie irgendwann krank werden, schlimmstenfalls sogar kündigen.

Wie lauten Ihre Empfehlungen zum Umgang mit dem Leiden für Betroffene wie auch für das Umfeld?

Muthig: Wenn die Selbstzweifel zu einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität führen und die Betroffenen allein nicht herausfinden, sollten sie sich professionelle Hilfe suchen. Bei einer geringeren Ausprägung kann es manchmal schon hilfreich sein, sich mit anderen auszutauschen. Was den Umgang mit dem Syndrom in Betrieben angeht, so ist Aufklärung ganz wesentlich. Wenn Betroffene erfahren, dass es das Phänomen gibt, fällt es ihnen leichter, darüber zu sprechen.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G. Er führte das Interview gemeinsam mit
Annegret Himrich, ehemalige Redakteurin beim KomPart-Verlag.
Bildnachweis: privat