Akupunktur gegen Migräne ist eine von zwei IGeL, deren Nutzen als „tendenziell positiv“ eingestuft wurde.
Individuelle Gesundheitsleistungen

Geringer Nutzen, große Verunsicherung

Ob Vitaminkur, PSA-Test oder spezieller Check-up: Seit zehn Jahren nimmt der Medizinische Dienst Bund Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) unter die Lupe, die Patienten aus eigener Tasche bezahlen müssen. Die Bilanz lässt aufhorchen. Von Thorsten Severin

Kuren mit Vitamin B12

preisen Ärzte mit Slogans wie „Energie für jede Zelle“ oder „Der rasche Kick“ an. Eine schwangere Frau bekommt von ihrer Gynäkologin immer wieder Tests und Ultraschalluntersuchungen auf eigene Kosten angeboten, da nur so Krankheiten und Fehlbildungen des Fötus erkannt werden könnten. Andere Patienten sollen zur Früherkennung von grauem und grünem Star sofort einen kostenpflichtigen Termin für eine zusätzliche Untersuchung vereinbaren. Dr. Stefan Gronemeyer kennt zahlreiche Beispiele von verunsicherten Patientinnen und Patienten, deren Ärzte ihnen diverse Leistungen aufdrängen wollten, die von der gesetzlichen Krankenkasse nicht getragen werden. Solche Selbstzahlerleistungen sind nach wie vor gang und gäbe in deutschen Arztpraxen. Doch: „Die Nutzenbilanz der IGeL ist nicht gut“, bringt Gronemeyer die Erkenntnisse nach zehnjähriger Forschung auf einen Nenner. Bei den meisten der 55 untersuchten Leistungen überwiege der potenzielle Schaden den möglichen Nutzen oder der Nutzen sei unklar.

Keine Nutzenbewertung positiv.

Keine einzige der IGeL wurde von den Wissenschaftlern mit „positiv“ bewertet. Mit „tendenziell positiv“ schlossen lediglich die Akupunktur zur Migräneprophylaxe und die Lichttherapie bei einer Winterdepression ab. Bei vier Leistungen wurde der Nutzen mit „negativ“, bei 25 mit „tendenziell negativ“ und bei 21 mit „unklar“ angegeben. Zu drei IGeL wurde kein Fazit gezogen. Auch zur Früherkennung eines Vitamin-B12-Mangels und einer anschließenden Vitamingabe, die die Experten zum „Zehnjährigen“ in Augenschein genommen haben, konnten keine Studien gefunden werden, die auf einen Nutzen oder Schaden hinwiesen.

Warnung vor Ultraschall der Eierstöcke.

IGeL, bei denen aus hochwertigen Expertisen bekannt sei, dass der potenzielle Schaden klar überwiege, sollten nicht angeboten werden, forderte Gronemeyer. Das gelte etwa für Ultraschalluntersuchungen zur Früherkennung von Eierstockkrebs. Diese bereits vor Jahren als negativ eingestufte Leistung führe zu vielen falsch-positiven Ergebnissen und dadurch zu unnötigen weiteren Untersuchungen und Eingriffen, die den Patientinnen schaden könnten. Das stehe „nicht im Einklang mit den einfachsten Regeln der Patientensicherheit“. Auch internationale Fachgesellschaften raten von dieser IGeL ab. Erhebungen hätten aber gezeigt, dass sie weit verbreitet sei, berichtete Expertin Dr. Michaela Eikermann vom Medizinischen Dienst Bund. Der Nutzen werde von Ärzten offenbar überschätzt und der Schaden unterschätzt.

Insgesamt zog Gronemeyer eine positive Zehn-Jahres-Bilanz der Arbeit des IGeL-Monitors. „Keine einzige Bewertung ist widerlegt worden. Keine einzige musste zurückgezogen werden.“ In der Pflicht sieht der Wissenschaftler vor allem die Ärzte. Immer wieder berichteten Patienten, dass sie in Facharztpraxen für Regeluntersuchungen Wochen und Monate auf einen Termin warten müssten, sie aber von denselben Praxen einen sofort verfügbaren Termin für IGeL-Leistungen angeboten bekämen. „Das legt die Vermutung nahe, dass das Angebot von IGeL unmittelbare Auswirkungen auf das Versorgungsangebot hat.“

Ärzte sollen für Klarheit sorgen.

Gronemeyer verwies darauf, dass Patienten vom Arzt sachlich und umfassend über Nutzen, Schaden und die Kosten einer IGeL aufgeklärt werden müssten. „Es sollte weder Druck ausgeübt werden noch sollten Kassenleistungen schlecht dargestellt werden.“ IGeL mit unbelegtem Nutzen sollten von den Medizinern nicht als sinnvoll dargestellt werden. Es müsse darüber hinaus verstärkte Anstrengungen geben, das Wissen aus aufwendig erstellten evidenzbasierten Leitlinien in die Versorgung zu bringen.
 
Erkenntnissen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zufolge bessern vor allem einzelne Facharztgruppen ihre Einnahmen mit IGeL auf – vor allem Gynäkologen, Augenärzte, Orthopäden, Urologen und Hautärzte. Praktische Ärzte und Allgemeinmediziner „igelten“ dagegen deutlich seltener, sagt Studienleiter Klaus Zok. Zudem zeige sich eine soziale Differenzierung: „IGeL werden überproportional einkommensstarken und gebildeten Versicherten angeboten“, so der WIdO-Experte.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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