Interview

„Uns fehlt ein europäischer Masterplan“

Die EU-Kommission hat ihr Konzept für einen europäischen Gesundheitsdatenraum vorgestellt. Neben der Datensicherheit sind es technische Hürden, die Fachleute an einer schnellen Umsetzung zweifeln lassen. E-Health-Experte Prof. Dr. Guido Noelle rät deshalb zu einem regional abgestuften Vorgehen.

Herr Prof. Noelle, im Vorschlag der EU-Kommission für den „European Health Data Space“ (EHDS) heißt es: „Die Mitgliedstaaten werden sicherstellen, dass Patientenkurzakten, elektronische Verschreibungen, Bilddaten und Bildberichte, Laborergebnisse und Entlassungsberichte in einem gemeinsamen europäischen Format erstellt und akzeptiert werden.“ Gibt es überhaupt schon IT-Standards oder Schnittstellen-Definitionen für einen grenzüberschreitenden Austausch von Gesundheitsdaten in der EU?

Guido Noelle: In den vergangenen Jahrzehnten wurden erhebliche Gelder für unterschiedlichste EU-Projekte im Bereich Telemedizin, Patientenakten und anderes investiert, ohne dass dabei relevante Forschungsergebnisse über die Projektlaufzeit hinaus herauskamen oder auch nur Beachtung fanden. Beim Thema Standardisierung haben internationale Bewegungen für eine bessere Interoperabilität zwischen Anwendungssystemen im Gesundheitswesen oder zur Entwicklung medizintechnischer Normen, zum Beispiel HL7, IHE oder Dicom, deutlich höheren Einfluss gehabt. Das liegt auch daran, dass viele Entwicklungen in der digitalen Radiologie oder im Bereich der Krankenhaus-Informationssysteme international stattfinden. Etwaige Vorgaben seitens der EU waren stets zu abstrakt und komplex.

Porträt von Prof. Dr. Guido Noelle, Geschäftsführer der Gevko GmbH

Zur Person

Prof. Dr. med. Guido Noelle ist Arzt, Medizin-Informatiker und Gesundheitsökonom. Er leitet das auf Softwarelösungen für Selektivverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern spezialisierte AOK-Tochterunternehmens Gevko GmbH.

Der ehrgeizige Zeitplan sieht vor, dass unter dem Dach des schon vor einiger Zeit angelaufenen Projektes „MyHealth@eu“ spätestens ab 2025 in allen Mitgliedsländern der grenzüberschreitende Austausch von elektronischen Rezepten und Patientenkurzakten möglich sein soll. Ist das realistisch?

Noelle: Es gibt bereits einige EU-Staaten, in denen das eRezept routinemäßig zur Anwendung kommt, teilweise auch grenzüberschreitend. So können Patienten aus Kroatien, Estland, Finnland, Portugal, Malta und Spanien bereits in den genannten Ländern ihre elektronische Verordnung grenzüberschreitend einreichen. Für eine Ausweitung ist es notwendig, die nationalen Rechtsvorschriften anzugleichen, was die „Vollständigkeit“ einer Verordnung betrifft. Eine besondere Herausforderung ist es dabei unter anderem, die Verschreibung von Fertigarzneimitteln zu einer Wirkstoffverordnung umzustellen. Modellvorhaben in Deutschland wie die „Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen“ (Armin), an der auch die Gevko mit Softwarelösungen beteiligt war, zeigen jedoch, dass dies möglich und sinnvoll ist. Das erfordert auch ein Umdenken bei den verordnenden Ärzten.

Wurde und wird beim Aufbau der deutschen Telematikinfrastruktur (TI) für das Gesundheitswesen die „EU-Vernetzung“ mitgedacht? Konkret: Berücksichtigt die Gematik GmbH als nationale Koordinierungsstelle beim Definieren von Standards die Pläne der EU-Kommission?

Noelle: Das Thema „EU-Vernetzung“ muss mehrschichtig betrachtet werden. Einerseits geht es um kompatible, abgestimmte Datensatzformate zur Darstellung bestimmter inhaltlicher Sachverhalte, zum Beispiel einer Patientenkurzakte oder einer elektronischen Verordnung. Hier erarbeitet die MIO42 GmbH, eine Tochter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, im Auftrag der Gematik Vorgaben zur Befüllung der elektronischen Patientenakte. Diese sogenannten medizinischen Informationsobjekte werden auf Basis des internationalen HL7-Standards „Fast Healthcare Interoperability Resources“ (FHIR) entwickelt und veröffentlicht. Dies schließt künftige Änderungen nicht gänzlich aus, bietet aber aus heutiger Sicht die beste Voraussetzung für eine landesübergreifende Anwendung, auch in der EU. Andererseits sind die Kommunikationsprozesse bislang nicht europäisch normiert. Da geht es um die Fragen, wie eine Information von A nach B gelangt oder gespeichert wird, wie Zugriffsberechtigungen abgebildet und verwaltet werden. Dazu waren die nationalen Aktivitäten in der Vergangenheit zu unterschiedlich, was zum Teil auch den unterschiedlichen Strukturen der jeweiligen Sozialsysteme geschuldet ist. Ob die Vorbereitungen der Gematik für die „TI 2.0“ hier Abhilfe schaffen, bleibt abzuwarten.

Über welchen Zeithorizont sprechen wir beim EHDS-Aufbau? Ist es realistisch, dass in zehn Jahren ein Arzt oder eine Klinik in Frankreich meine Patientendaten abrufen kann, wenn ich dort im Urlaub einen Unfall hatte?

Noelle: Das ist insgesamt nicht unrealistisch. Folgende Prämissen sind dabei zu berücksichtigen: Wir werden bis dahin keine einheitliche EU-weite technische Infrastruktur haben, sondern bestenfalls Informationen über Gateways und Schnittstellen zentralisiert bereitstellen können. Die Datenformate werden syntaktisch und semantisch einheitlich sein, etwa auf FHIR-Basis. Es gibt, wo notwendig, einheitliche Kataloge, Nomenklaturen und Semantiken. Es wird auch automatisierte Übersetzungsdienste geben.

Besteht die Gefahr einer digitalen Zwei-Klassen-EU? Mit Ländern wie Estland, Dänemark und anderen bei der Digitalisierung bereits weit fortgeschrittenen Ländern auf der einen Seite und „Nachzüglern“ wie Deutschland auf der anderen Seite?

Noelle: Wir haben de-facto in Europa schon seit Jahren die Situation eines deutlich unterschiedlichen Fortschreitens bei der Digitalisierung. Das muss aber nicht unbedingt eine „Gefahr“ darstellen. Theoretisch könnten die Nachzügler ja auch aus den Erfahrungen der Voranschreitenden lernen und etwaige Fehler vermeiden. Was uns leider fehlt, ist ein europäischer Masterplan.

Was müsste ein solcher Masterplan vorgeben?

Noelle: Er müsste zum einen verbindlich eine technische Rahmenarchitektur definieren. Zudem wäre es sinnvoll, einzelne Teilbereiche der Digitalisierung zunächst in einzelnen Schwerpunkt-Ländern regional zu konzipieren, zu erproben und dann bei Erfolg auf die anderen Mitgliedsländer zu übertragen. Dadurch ließen sich erhebliche Kosten einsparen und wir bekämen mehr Tempo bei der Umsetzung von Interoperabilität und Standardisierung.

Laut Kommissionskonzept soll der Zugriff auf Gesundheitsdaten durch Forschung, Wirtschaft und andere durch nationale Zugangsstellen genehmigt werden. Welche Einrichtung könnte das in Deutschland übernehmen?

Noelle: In der Vergangenheit war für entsprechende Aufgaben das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information in Köln zuständig. Das Dimdi wurde im Mai 2020 in das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) in Bonn eingegliedert und regelt bisher als „Forschungsdatenzentrum Gesundheit“ den Zugriff auf pseudonymisierte Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherung für Forschungszwecke. Eine Zuständigkeit als „Gatekeeper“ für die Verwendung deutscher Gesundheitsdaten in anderen EU-Staaten könnte und müsste also entsprechend rechtlich erweitert werden.  

Im Vorschlag der Kommission ist zudem vom Anschluss der nationalen Zugangsstellen für Gesundheitsdaten an eine „neue dezentrale EU-Infrastruktur für die Sekundärnutzung“ die Rede. Was ist unter diesem Projekt „HealthData@EU“ zu verstehen?

Noelle: Natürlich birgt eine EU-weite Gesundheitsdatennutzung erhebliche Potentiale, auch finanziell. Die Kommission spricht von rund 5,4 Milliarden Euro über zehn Jahre durch eine bessere Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung, Innovation und Politikgestaltung. In der Praxis stehen uns aber absehbar nur landesspezifisch unterschiedliche Infrastrukturen zur Verfügung. Es müssten erst Schnittstellen oder Gateways geschaffen werden, die eine grenzübergreifende Nutzung ermöglichen, koordinieren und überwachen. Dabei geht es neben technischen Fragen auch um den jeweiligen nationalen Rechtsrahmen, was die komplizierten Fragen von Datenschutz, Eigentumsvorbehalt oder der verschiedenen Modelle der Patientenzustimmung angeht. Unter Kosten-Nutzen-Aspekten verspricht eine Sekundärnutzung der Daten deshalb in nächster Zeit keinen großen Gewinn für Forschung und „Big Data“. Denn auch bei der strukturierten Abbildung medizinischer Daten stehen wir noch weit am Anfang und werden dabei immer dem jeweils aktuellen Stand der medizinischen Forschung hinterherhinken.

Bezieht Ihr eigenes Unternehmen bei Software-Projekten denn bereits den „EU-Faktor“ ein?

Noelle: Die Gevko entwickelt seit Jahren Spezifikationen unterschiedlicher Art für das Gesundheitswesen auf Basis von FHIR und begleitet kommentierend auch alle relevanten deutschen Aktivitäten hierzu, etwa die der Gematik, der KBV oder von Mio42. Im Rahmen unserer Softwareentwicklung setzen wir auch konkret auf internationale Standards wie FHIR und IHE. Wir sind also gut aufgestellt für künftig mögliche grenzüberschreitenden Projekte.

Thomas Rottschäfer führte das Interview. Er ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: Gevko GmbH