Interview

„Das Jahr 2023 wird entscheidend“

Steigende Beitragssätze, erneuter Griff in die Reserven der Krankenkassen, zu geringer Bundes­zuschuss für gesamtgesellschaftliche Aufgaben – im geplanten GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sieht die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, eine gefährliche Schieflage. Vor allem vermisst sie grundlegende Strukturreformen in der Kranken- und Pflegeversicherung.

Ein leichtes Plus der AOK-Gemeinschaft von 81 Millionen Euro im ersten Quartal, nach dem zweiten Quartal ein Minus von 98 Millionen Euro – was sagt die Defizitentwicklung in diesem Jahr über die Finanzperspektive der gesetzlichen Krankenversicherung, der GKV aus?

Carola Reimann: Das bestätigt unsere Befürchtungen: Die GKV kommt in schweres Fahrwasser. Angesichts weiter steigender Ausgaben und zusätzlicher Belastungen ist keine Entspannung der Finanzlage zu erwarten. Und die Teuerungen der vergangenen Monate werden sich erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass sich das Defizit in diesem Jahr erst aufbaut und das dicke Ende 2023 kommt.

Für 2023 rechnet die Bundesregierung mit einem Fehlbetrag von 17 Milliarden Euro. Wie realistisch ist die Prognose noch?

Reimann: Diese Zahl haben die Experten Anfang des Jahres genannt. Aber das wird nicht reichen. Die hohe Inflationsrate, insbesondere die steigenden Energiepreise konnte niemand vorhersehen. Das ist folglich in diesem Betrag auch nicht enthalten. Die Leistungserbringenden trommeln ja dafür, dass sie in der Inflation möglichst schnell durch höhere Vergütungen entlastet werden. Diese Belastungen können nicht allein bei den Beitragszahlenden landen, die am Ende der Nahrungskette sitzen. Ohnehin haben wir bei den Arzneimittelausgaben ein weitgehend ungebremstes Ausgabenwachstum, im ersten Halbjahr von 6,1 Prozent pro Versichertem. Gerade hier plädieren wir, wie im Entwurf für das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vorgesehen, für ein Preismoratorium. Das muss allerdings ein echtes Moratorium sein und keines, das eine Anpassung der Preise an die Inflationsrate erlaubt. Die Anhebung der Herstellerrabatte sollte auf 2024 ausgedehnt werden, das war im Referentenentwurf noch vorgesehen.

Bis das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz alle parlamentarischen Verfahren durchlaufen hat, müssen die Kassen längst ihre Haushalte für 2023 den Aufsichtsbehörden vorgelegt haben. Wie können die AOKs das nächste Jahr realistisch planen?

Reimann: Das ist in der Tat eine echte Herausforderung. Angesichts des Beratungsverlaufs in Bundestag und Bundesrat wird es auch dem GKV-Schätzerkreis – also dem Gremium, das die Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitrags für das nächste Jahr vorschlägt – erst in letzter Minute klar sein, wie die Grundlage für ihre Schätzung aussieht. Das gilt umso mehr für die einzelnen Kassen, die auf der Basis jeweils ihre Zusatzbeiträge kalkulieren müssen. Hier gibt der Gesetzgeber den Kassen wieder einmal eine Aufgabe, die eigentlich kaum zu erfüllen ist.

Die AOK kritisiert, dass nach den bisherigen Plänen in erster Linie die Beitragszahler herangezogen werden, um den Fehlbetrag aufzubringen, und so das Kassensystem destabilisiert wird. Welche konkrete Gefahr sehen Sie?

Reimann: Es ist völlig ungerecht, wenn zwei Drittel der prognostizierten Finanzlücke von 17 Milliarden Euro von den Beitragszahlenden übernommen werden sollen. Die Zusatzbeiträge sollen steigen, und die aus Beitragsmitteln stammenden Reserven des Gesundheitsfonds sowie der Kassen werden herangezogen. Das sind allerdings die letzten Reserven. Vielleicht hilft es, den Fehlbetrag 2023 aufzufangen. Aber das ist keine nachhaltige Lösung für die nächsten Jahre. Hinzu kommt die geplante Absenkung der Reserven auf 0,2 Monatsausgaben. Das ist auch verfassungsrechtlich nicht sauber, weil der Gesetzgeber damit massiv in die Finanzautonomie der Krankenkassen eingreift. Das bestätigt ein Gutachten des Staatsrechtlers Professor Stephan Rixen von der Universität Bayreuth über den schon von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgenommenen Griff in die Finanzreserven. Dagegen klagen nun mehrere Kassen.

„Im Kern geht es darum, einen verlässlichen Bundeszuschuss zu erhalten. Daran sollte uns allen gelegen sein.“

Welche konkreten Folgen hätte die verringerte Mindestreserve für die Kassen?

Reimann: Ihnen würde damit jeglicher Puffer fehlen, um Ausgabenanstiege und Zuweisungsschwankungen aufzufangen. Nicht umsonst hatten wir in der Vergangenheit wesentlich höhere Mindestreserven. Das kann bei zusätzlichen Belastungen dazu führen, dass einzelne Kassen schnell in Schieflage geraten. Da Krankenkassen insolvenzfähig sind und keine weiteren Sicherungssysteme mehr greifen, sehen wir dieses Vorhaben als eine sehr riskante Operation.

Wie wahrscheinlich ist das Szenario?

Reimann: Hier gibt es einige Unwägbarkeiten. So kann niemand sagen, wie sich die Corona-Pandemie entwickeln wird. Hinzu kommen die steigenden Energiepreise, die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Wirtschaft und auf Lieferketten. Gerade diese Unwägbarkeiten machen es so riskant, die Finanzsituation der Kassen derart auf Kante zu nähen. Deshalb fordern wir die Erhöhung der Pauschale, die der Bund für Bezieher von Arbeitslosengeld II an die Krankenversicherung zahlt. Das Bundesgesundheitsministerium hat gerade erstmals selbst konkrete Zahlen genannt. Die Pauschale beträgt 108 Euro, rechnerisch erforderlich wären 350 Euro. Würde diese Pauschale entsprechend angehoben, wäre die GKV erheblich entlastet. Der andere Punkt, den wir einfordern, ist die Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel von 19 auf sieben Prozent. Es ist absurd, dass Tierarzneimittel geringer besteuert werden als Medikamente für Menschen. Momentan haben wir die Situation, dass die Menschen in nächster Zeit immer mehr belastet werden. Dazu zählen auch die Sozialversicherungsbeiträge. Das gilt für alle, vom Auszubildenden bis zum Rentner. Deshalb muss beim Thema Entlastungen auch auf den Sozialversicherungsbereich geschaut werden. Und wenn bereits über geringere Mehrwertsteuer für Energie gesprochen wird, dann sehen wir den Zeitpunkt gekommen, auch den Mehrsteuersatz für Arzneimittel zu senken.

Alle Kassenverbände kritisieren das geplante GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Die Innungskrankenkassen schlagen vor, den Bundeszuschuss zu dynamisieren und die Krankenversicherung an den Einnahmen durch die Tabak- und Alkoholsteuer und auch Umweltsteuern zu beteiligen. Was halten Sie davon?

Reimann: Die Dynamisierung des Bundeszuschusses fordern alle Kassenverbände, verbunden mit einer Konkretisierung, was unter versicherungsfremden Leistungen zu verstehen ist, also für welche gesellschaftspolitischen Aufgaben diese Steuermittel verwendet werden. Nun sind Steuereinnahmen ja nicht zweckgebunden. Daher ist die Forderung, die Kassen an den Einnahmen aus der Tabak- und Alkoholsteuer zu beteiligen, eher eine rhetorische Figur, die ich nicht nutzen würde. Im Kern geht es darum, einen verlässlichen Bundeszuschuss zu erhalten. Daran sollte uns allen gelegen sein.

Sehen Sie Chancen, dass sich im parlamentarischen Verfahren an dem Gesetzentwurf Entscheidendes ändert?

Reimann: Ich höre viel Verständnis für unsere Argumentation. Doch es steht und fällt damit, dass der Bundesfinanzminister nicht bereit ist, der Finanzierungsverantwortung des Bundes für die Gesundheitsversorgung der Bezieher von Arbeitslosengeld II nachzukommen, wie es bereits im Koalitionsvertrag verankert wurde.

Bislang konzentriert sich die Gesundheitspolitik auf Corona und das Beheben der Finanzierungslücke im kommenden Jahr. Welche grundlegenden Reformschritte sollte die Regierung als erstes angehen?

Reimann: Wir brauchen im Bereich der Ausgaben echte Strukturreformen, an erster Stelle im Krankenhausbereich. Hier gibt es keinerlei Erkenntnisproblem mehr. Es fehlt eine gemeinsame Vereinbarung von Bund und Ländern, Krankenhausgesellschaften und Krankenkassen, Strukturreformen auch anzugehen. Das ist der wichtigste Punkt. Wir brauchen einen konsequenten qualitätsorientierten Umbau der stationären Versorgung. Das zweite große Thema ist der Arzneimittelbereich. Die Ausgabensteigerungen sind erheblich, gerade bei den hochpreisigen Medikamenten. Auch hier brauchen wir Strukturreformen. Hier weist das Finanzstabilisierungsgesetz in die richtige Richtung, denn es geht das Problem der Fantasiepreise für neue Arzneimittel an und verbessert die Verhandlungsposition der GKV zugunsten der Beitragszahlenden. Diese Vorschläge dürfen bis zur Verabschiedung des Gesetzes keinesfalls verwässert werden. Die jetzt endlich vorgesehene Rückwirkung des Erstattungspreises haben wir lange gefordert, allerdings nicht erst ab dem siebten Monat, sondern ab Tag eins.

„Wir brauchen im Bereich der Ausgaben echte Strukturreformen, an erster Stelle im Krankenhausbereich.“

Sie sagten, dass es keine Erkenntnisprobleme mehr gibt. Was fehlt denn noch, damit alle Beteiligten loslegen?

Reimann: Ich glaube, dass die Zeit für gemeinsame Reformanstrengungen reif ist. Denn wir haben das massive Finanzierungsproblem der Krankenkassen, wir haben aber auch ein Fachkräfteproblem, das im Gesundheitsbereich immer deutlicher zutage tritt, in einigen Regionen schon sehr akut. Beides sind Ressourcenprobleme. Die lassen keine andere Möglichkeit mehr, als gemeinsam zu schauen, wie wir die Versorgung auf neue Grundlagen stellen können: also mehr Konzentration im Krankenhausbereich, zugleich verstärkte Ambulantisierung und eine klügere und weitergehende Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen. Wir brauchen hier mehr regionale Spielräume, damit die Initiativen auf der Landesebene besser umgesetzt werden können.

Die Diskussion konzentriert sich derzeit auf die Finanzlage der Krankenversicherung. Wie stabil ist die Pflegeversicherung?

Reimann: Auch die Pflegeversicherung hat ein massives Finanzierungsproblem, in der Perspektive aufgrund der demografischen Entwicklung sogar ein größeres und kurzfristigeres als in der Krankenversicherung. Die Pflegeversicherung leidet mehrfach unter dem demografischen Wandel: Zum einen sinkt das Erwerbspotenzial und damit Beitragszahlende, zum anderen steigt die Zahl der Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Schon heute haben wir ein erhebliches Defizit im Ausgleichfonds der Pflegeversicherung, und die Pflegekassen können nur durch ein Darlehen des Bundes noch die Rechnung bezahlen. Die professionellen Pflegeleistungen werden immer teurer, pflegebedürftige Menschen können für den Leistungsbetrag der Pflegeversicherung immer weniger einkaufen oder müssen höhere Eigenanteile in Kauf nehmen. Hier braucht es dringend eine Antwort auf die Frage: Wie kann über einen Finanzierungsmix unter Beibehaltung des Teilleistungsprinzips eine wirtschaftliche Überforderung von pflegebedürftigen Menschen verhindert und eine solide Finanzierung der Pflegeversicherung sichergestellt werden?

Was muss sich in der Pflegeversicherung ändern?

Reimann: Es braucht eine grundlegende Struktur- und Finanzierungsreform. Angesichts der finanziellen Situation der SPV sowie einer steigenden Inflation bedarf es im Rahmen einer Leistungsdynamisierung regelmäßig der Überprüfung, ob und wie Leistungen nach dem SGB XI zielgerichtet weiterentwickelt werden können. Auch der Pflegepersonalmangel wird trotz aller Bemühungen perspektivisch eine der größten Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts bleiben. Es muss verstärkt in den Blick genommen werden, wie unter anderem Pflegefachpersonen effizienter in der Versorgung eingesetzt werden können und sich der Unterstützungsmix in der Pflege auf breitere Füße stellen lässt. Hierbei muss stärker der Blick auf gemeinwesensorientierte Quartierskonzepte und weitere Formen der Vergesellschaftung von Pflege gerichtet werden. Es braucht also eine breitere gesellschaftliche Diskussion, wie wir die Teilhabe und Versorgung der Pflegebedürftigen längerfristig organisieren und finanzieren können.

Wie beurteilen Sie die bisherige Arbeit von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach?

Reimann: Karl Lauterbach hat das Amt in schwerer Zeit und mit schwerer Hypothek angetreten. Denn die Finanzprobleme sind im großen Maße auch eine Folge der Gesetzgebung der letzten Jahre, hinzu kommt die Pandemie. Dennoch erwarte ich, dass nachhaltiger gehandelt wird und die notwendigen Strukturreformen angegangen werden, um die Krankenversicherung mittel- und langfristig besser aufzustellen mit einer besseren Versorgung, die auch finanzierbar ist. Das sind keine leichten Aufgaben. Auch die anderen politischen Akteure in der Koalition und die Bundesländer müssen da mitziehen. Dabei sollte Karl Lauterbach nicht nur Wissenschaftler, sondern auch den Sachverstand der beteiligten Akteure einbinden, und auf den verstärkten Dialog setzen. Entscheidend wird für eine solche Weichenstellung das nächste Jahr, also 2023, sein. Sonst ist die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl zu knapp.

Bernhard Hoffmann führte das Interview. Er ist Chefredakteur der G+G.
Bildnachweis: Stefan Boness/IPON