Einwurf

Depression kennt kein Alter

Auch bei betagten Menschen können depressive Erkrankungen auftreten. Doch oft werden erste Anzeichen übersehen. Der Psychiater Prof. Dr. Ulrich Hegerl fordert, das Umfeld Älterer für die Krankheit zu sensibilisieren.

Porträt von Psychiater Prof. Dr. Ulrich Hegerl

Depressionen gehören bei älteren Menschen

neben Demenz zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Eine Depression betrifft die Hirnfunktion und ist eine eigenständige Erkrankung. Sie hängt weniger als vermutet von äußeren Faktoren ab. Obwohl im Alter Verlusterlebnisse, körperliche Beeinträchtigungen und andere Bitternisse gehäuft auftreten, zeigen sich depressive Krankheitsphasen hier nicht öfter als bei jüngeren Erwachsenen. Im Gegenteil sind Depressionen in dieser Altersgruppe laut Studien sogar etwas weniger häufig.

Die meisten Menschen mit einer depressiven Episode im Alter hatten bereits in früheren Jahren derartige Krankheitsphasen. Dass eine Depression im hohen Alter erstmalig auftritt, ist eher ungewöhnlich. Erschöpfungssymptome wie Schlappheit und Müdigkeit bei Long Covid, Schilddrüsenüberfunktionen, Durchblutungsstörungen im Gehirn oder eine beginnende Alzheimer-Demenz lassen sich mit einer Depression verwechseln.

Eine Depression im Alter ist besonders gefährlich und kann rasch lebensbedrohlich werden.

Von den Krankheitszeichen her unterscheidet sich die Depression im hohen Alter nicht von einer Depression in jüngeren Jahren. Dennoch gibt es einige Besonderheiten. Zum einen wird eine Depression bei Senioren häufiger übersehen und depressive Symptome wie Schlafstörungen oder Erschöpfungsgefühl oft nicht als Ausdruck einer eigenständigen, schweren Erkrankung erkannt. Stattdessen werden diese Symptome als nachvollziehbare Reaktion des Älterwerdens oder als Folge körperlicher Erkrankungen fehlinterpretiert. Körperliche Beschwerden stehen oft im Vordergrund und können die zugrunde liegende Depression verdecken. So empfinden depressive Patienten beispielsweise bestehende Rückenschmerzen oder Ohrgeräusche, die im nicht-depressiven Zustand lästig, aber erträglich wären, in der Depression als unerträglich. Diese dienen dann vordergründig als Erklärung für den schlechten Zustand. Wenn der behandelnde Arzt nicht gezielt danach fragt, übersehen der Patient und sein Umfeld zusätzliche Beschwerden wie Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit, permanente innere Unruhe, völlige Erschöpfung und Suizidgedanken leicht. Ambulanten Pflegekräften und pflegenden Angehörigen kommt hier eine besondere Bedeutung zu, da sie oft die einzigen regelmäßigen Ansprechpartner sind.

Eine Depression im Alter ist besonders gefährlich. Der Rückzug ins Bett, eine verminderte Flüssigkeitszufuhr und mangelnde Bewegung können bei alten Menschen sehr rasch zu lebensbedrohlichen Zuständen führen. Vor allem bei Männern nimmt das Suizidrisiko mit dem Alter drastisch zu. Gibt es bei jungen Männern im Alter von 20 bis 25 Jahren jährlich zehn Suizide pro 100.000 Einwohner, so sind es bei 80- bis 85-Jährigen fünfmal so viele. Eine konsequente, leitlinienkonforme Behandlung ist im Alter schwieriger, da der Patient häufig altersbedingt schon viele Medikamente einnimmt und bei Antidepressiva Wechselwirkungen zu beachten sind. Auch Verträglichkeitsprobleme und Nebenwirkungen können bei körperlichen Begleiterkrankungen schwerer zu regulieren sein.

Psychotherapie wird älteren Menschen nur sehr selten angeboten. Dabei gibt es für die kognitive Verhaltenstherapie ausreichend Wirksamkeitsbelege. Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zeigt, dass nur zwölf Prozent der Betroffenen über 70 in psychotherapeutischer Behandlung sind. Bei den erkrankten Befragten zwischen 30 und 69 Jahren sind es 31 Prozent. Laut Erhebung wäre aber eine deut­liche Mehrheit (64 Prozent) der befragten Menschen über 70 bereit, eine Psychotherapie zu beginnen. Aufgrund des demografischen Wandels wird das Thema in den kommenden Jahren noch relevanter werden. Erste Ansprechpartner bei Verdacht auf Depression und Suizidgefährdung von älteren Menschen und ihren Angehörigen sind Hausärzte oder Fachärzte, das heißt Psychiater und Psychologische Psychotherapeuten.

Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität Frankfurt am Main.
Bildnachweis: Katrin Lorenz