Interview

„Long Covid wird ein Problem bleiben“

Viele Menschen leiden noch Monate nach einer Corona-Infektion an Symptomen. Je früher sie behandelt werden, desto besser seien die Aussichten auf Erfolg, sagt der Marburger Kardiologe und Long-Covid-Experte Bernhard Schieffer. Er plädiert für sektorenübergreifende Versorgungsnetze.

Herr Professor Schieffer, Sie behandeln in der Long-Covid-Ambulanz der Universität Marburg sowohl Patienten mit Symp­tomen nach Infektion als auch nach Impfung, also Post Vac. Wie kam es dazu?

Bernhard Schieffer: Wir wissen inzwischen, dass nach einer Corona-Infektion Long-Covid- oder Post-Covid-Symptome auftreten können. Wir sehen die gleichen Symptome und die gleichen Laborauffälligkeiten mitunter auch nach einer Impfung. Post Vac ist Long Covid nach Impfung. Man muss aber die Relationen offen ansprechen: Lediglich 0,01 bis 0,02 Prozent der Menschen entwickeln nach einer Impfung Post Vac. Long Covid nach Infektion ist dagegen sehr viel häufiger. Wir wissen auch, dass eine Impfung sehr viele Long-Covid-Fälle verhindern kann. Deshalb müssen wir impfen. Wir können uns gar nichts anderes leisten, als zu impfen. Aber auch Post-Vac-Betroffene brauchen eine Behandlung.

Porträt von Prof. Dr. Bernhard Schieffer, Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Marburg

Zur Person

Prof. Dr. Bernhard Schieffer ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Marburg. Der 58-Jährige ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung. Bereits in seiner Habilitation befasste Schieffer sich mit dem Renin-Angiotensin-System, das eine zentrale Rolle bei Gefäßpro­zessen und auch bei Covid-19 spielt. Seit Anfang 2021 behandelt er als Teil eines interdisziplinären Teams Long-Covid-Patienten. Erste Post-Vac-Patienten kamen im Zuge der Impfkampagne Mitte 2021 dazu. Im Januar 2022 wurde die Post-Vac-Sprechstunde zur besseren Erforschung des Krankheitsbildes ausgegliedert.

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Wie viele Menschen leiden nach einer Infektion länger an Symp­tomen?

Schieffer: Die Literaturangaben variieren zwischen fünf und 40 Prozent aller Infizierten. Ich schätze, dass zehn bis 15 Prozent signifikante Long-Covid-Symptome entwickeln – egal, wie mild die akute Infektion verläuft. Wir reden hier, konservativ gerechnet, von zwei Millionen Patienten. Jede Corona-Welle zieht neue Fälle nach sich. Es trifft oft jüngere, vorher aktive Menschen. Diese Menschen werden buchstäblich aus ihrem Leben, ihrem Job gerissen. Das sind Mütter, Richterinnen, Polizisten. Die haben Geld verdient, Steuern und Sozialbeiträge gezahlt. Wir brauchen diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt und nicht auf dem Krankenbett.

Long Covid ist ein neues Krankheitsbild. Was bedeutet das für die Patientinnen und Patienten?

Schieffer: Die Betroffenen sind Suchende in der Wüste. Wir haben noch zu wenig Behandlungsangebote. Einige Long-Covid-Ambulanzen sind am Platzen. Bei uns warten 3.800 Patienten auf einen Termin. Die Wartezeit beträgt vier bis fünf Monate, mindestens. Für Kinder ist die Lage noch schwieriger. Das ist ein großes, schwarzes Loch im Moment. Es gibt nur wenige Kliniken, die Kinder mit Long Covid betreuen.

Gibt es Gruppen, die besonders gefährdet für Long Covid sind?

Schieffer: Primär sind das eher jüngere Menschen, deren Immunsystem zum Zeitpunkt der Infektion oder Impfung oft unbemerkt vorbelastet war. Das kann eine – auch stille – Vorinfektion sein, eine Allergie, eine Autoimmunerkrankung, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder andere Immunbelastungen. Häufig spielt das Epstein-Barr-Virus, kurz EBV, eine Rolle. Junge Menschen haben mit EBV immunologisch oft noch nicht abgeschlossen. Wir sehen nach einer Corona-Infektion oder Impfung Virusreaktivierungen etwa von EBV. Bei älteren Menschen flammt häufig Herpes Zoster, also eine Gürtelrose, auf. Insgesamt scheinen Frauen, genauer: Frauen vor der Menopause, stärker betroffen. Das Verhältnis ist 60 oder 70 Prozent Frauen zu 30 oder 40 Prozent Männern. Frauen haben einen höheren ACE2-Spiegel. Dieses Enzym ist der Gatekeeper für das Virus beziehungsweise das Spike-Protein. Wenn Sie einer Frau das ACE2 als Regenerationsfaktor rauben, fliegt ihr Immunsystem auseinander. Das ist noch Hypothese, aber die ist sehr gut in der Literatur validiert. Auch der Östrogenstoffwechsel scheint eine entscheidende Rolle zu spielen.

Welche Beschwerden treten auf?

Schieffer: Es können unterschiedliche Organe wie Herz, Lunge, Nervensystem, Blut und Immunsystem betroffen sein. Das erklärt die Symptomvielfalt. Wir sehen drei Hauptkomplexe: Der eine betrifft den kardiovaskulären Bereich, das ist zum Beispiel das Posturale Tachykardiesyndrom. Betroffene leiden etwa an Schwindel, Schwäche, Herzrasen, Atemnot und vielem mehr. Das kann bis zum Kreislaufkollaps gehen. Außerdem gibt es Symptome, die sich am Kopf darstellen, wie Geschmacksstörungen, Riechstörungen, Tinnitus, Migräne, Kopfschmerzen und vor allem Brainfog, also Nebel im Kopf. Zudem treten periphere neurologische Symptome wie Lähmungen, Muskelzuckungen und -schwächen auf. Viele Patienten zeigen klassische Charakteristika von ME/FCS. Das ist die myalgische Enzephalomyelitis mit Chronic Fatigue Syndrom, die bis zur Bettlägerigkeit führen kann.

Einige Long-Covid-Ambulanzen sind am Platzen. Bei uns warten 3.800 Patienten auf einen Termin.

Könnten diese Symptome auch eingebildet sein oder psychosomatische Ursachen haben?

Schieffer: Wir finden bei nahezu allen unseren Patienten auffällige Laborparameter. Wir sehen oft Veränderungen des Immunsystems: eine Verschiebung im Verhältnis von CD4- zu CD8-Zellen, Monozytosen, erhöhte Eosinophile, Immunglobuline und Zytokine. Schauen Sie sich mal einen Patienten mit Long Covid an: Er ist um Jahre gealtert, hat graue Haare und hat ein paar Jahre Lebenszeit verloren. Das hat alles nichts mit Psychosomatik zu tun.

Patienten berichten aber auch etwa über Angstgefühle oder Depressionen nach Infektion.

Schieffer: Wir sehen viele psychische Veränderungen, die mit Genesung wieder abklingen. Das hat trotzdem nichts mit Psychosomatik zu tun, sondern mit entzündlichen Prozessen im Gehirn. Das Renin-Angiotensin-System und vor allem das Enzym ACE2 finden sich in hoher Konzentration im Stammhirnbereich, also dort, wo viele unserer Emotionen und unsere kognitive Leistungsfähigkeit sitzen. Und genau dort greift das Virus oder das Spike-Protein an.

Es gibt bisher keine ursächliche Therapie. Können Sie den Patienten helfen?

Schieffer: Ja, aber es braucht viel Detektivarbeit, viel Zeit für die Betreuung und einen langen Atem bei der Therapie. Das dauert Monate, bis sich die Menschen wieder zurück in ihren Alltag gekämpft haben. Das Stichwort ist personalisierte Medizin. Es gibt nicht die eine Therapie, die hilft. Wir sehen auch spontane Heilungsverläufe über Monate, die wir etwa mit immunmodulierenden Medikamenten unterstützen.

Die Ursache von Long Covid gilt als ungeklärt. Was vermuten Sie?

Schieffer: Die Symptome sind durch das Spike-Protein ausgelöst. Wir sehen in den Untersuchungsgruppen ein gewisses Überdauern des Virus beziehungsweise ein verlängertes Clearing des Spike-Proteins. Das geht oft mit einer verlängerten Immunantwort einher. Wir finden bei Patienten mit Long Covid manchmal noch Monate nach einer Infektion oder Impfung massiv erhöhte Antikörper-Spiegel.

Wie kann die Versorgungslage für Betroffene verbessert werden?

Schieffer: Je früher behandelt wird, desto besser. Umso eher können die Patienten zurück in ihr Leben. Dazu braucht es Strukturen in der Vor- und Nachsorge. Wir brauchen in jedem Bundesland ausgewiesene Institute für Long-Covid-Forschung, also etwa Helmholtz-Schwerpunktzentren. Diese Zentren sollten untereinander vernetzt sein und auch sektorenübergreifend mit niedergelassenen Ärzten Versorgungsnetze bilden. Die Zentren erstellen und beginnen die Therapie. Damit gehen die Patienten zurück zum Facharzt, also zum Kardiologen oder Neurologen. Solche Strukturen kann man relativ schnell aufbauen. Hier in der Region läuft das bereits so. Viele Ärzte kennen unsere Therapiestrategien. Die schweren Fälle schicken sie sofort zu mir und wir überweisen sie dann zurück.

Das ist auch eine Kostenfrage.

Schieffer: Wir haben viel Geld in die Grundlagenforschung investiert. Wir dürfen nun nicht Gefahr laufen, die Versorgungsforschung, die an den universitären Schwerpunktzentren sitzt, zu vernachlässigen. Long Covid wird ein Problem bleiben. Das muss auch in den Entgeltsystemen verankert werden. Bisher ist unklar, wie das in die Praxis eingebettet und abgerechnet werden soll. Auch die Krankenkassen müssen überlegen, mit welchen Schwerpunktzentren und welchen Ärzten sie Behandlungsverträge schließen wollen. Ansonsten ist Wildwuchs programmiert.

Je früher behandelt wird, desto besser. Umso eher können die Patienten zurück in ihr Leben.

Einzelne Kassenärztliche Vereinigungen fordern, die Long-Covid-Behandlung bei den Hausärzten anzusiedeln und die Unikliniken außen vorzulassen.

Schieffer: Bei Long Covid bedarf es umfangreicher Diagnostik in jedem Einzelfall. Die Patienten präsentieren sich mit stark wechselnden Symptomen. Die Spurensuche ist enorm aufwendig. Wie ist das im Alltag einer vollbesetzten Allgemeinmedizinerpraxis zu leisten? Forschung und Entwicklung neuer Therapien sind originäre Aufgabe der Universitätsmedizin. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, Therapieoptionen zu etablieren, mit denen wir Patienten Hand in Hand mit den niedergelassenen Ärzten flächendeckend behandeln können. Verteilungskämpfe sind da fehl am Platz.

Einige Long-Covid-Patienten scheinen so verzweifelt, dass sie tausende Euro für unerprobte Therapien wie Apherese-Behandlungen zahlen.

Schieffer: Wir wissen einfach noch zu wenig, da wird einiges ausprobiert. Ein wenig erinnert das an die erste Phase von HIV oder frühe Therapieversuche bei Brustkrebs. Und manche Therapieform war leider eine Sackgasse.

Dank Impfungen und Medikamenten gibt es deutlich weniger schwere Akutverläufe von Covid-19 und Todesfälle. Können wir auf ähnliche Erfolge bei Long Covid hoffen?

Schieffer: Wir wissen, dass mit jeder neuen Infektion ein gewisses Risiko besteht, Long Covid zu entwickeln. Das hängt davon ab, in welcher Phase sich die Immunantwort gerade befindet. Daher kann es irgendwann jeden erwischen. Deshalb forschen wir auch daran, wie wir das Risiko von Long Covid vorbeugend verringern können. Dazu gibt es erste experimentelle Ansätze, die vielversprechend sind.

Wie sieht es bei den Nebenwirkungen der Impfung aus?

Schieffer: Die Impfung hat Millionen Menschen vor schweren Verläufen oder Tod bewahrt, indem sie eine Immunantwort gegen das Spike-Protein entwickelt haben. Wir müssen die Impfstoffe weiter verbessern, um auch das Risiko von Nebenwirkungen wie Post Vac weiter zu senken. Darüber diskutieren wir intensiv beispielsweise mit Biontech. Die neuen Impfstoffe sollen je 15 Mikrogramm mRNA gegen Delta und 15 Mikrogramm mRNA gegen Omikron enthalten statt 30 Mikrogramm mRNA pro Variante. Man hofft, dass diese Reduktion die Nebenwirkungen senkt. Das wäre auch meine Hoffnung.

Wir sind nun im dritten Pandemiejahr. Wie gehen Sie persönlich mit Corona um?

Schieffer: Ich habe mir noch nie so oft die Hände gewaschen und so viele Masken benutzt wie seit Beginn der Pandemie. Ich glaube, wir werden Corona zu unserem Alltag machen müssen. Das ist der rationalste Ansatz. Wir brauchen wahrscheinlich für lange Zeit Schutzmaßnahmen im öffentlichen Raum und Auffrischimpfungen mit kleineren Dosen. Denn das Virus wird weiter mutieren – in welche Richtung auch immer.

Christine Möllhoff führte das Interview. Sie schreibt als freie Journalistin zu Gesundheitsthemen.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: UKGM/privat