Versorgungsforschung

Spuren der Sepsis

Rund 320.000 Fälle von Blutvergiftung verzeichnen Krankenhäuser in Deutschland jährlich. Drei Viertel der Patientinnen und Patienten überleben diese schwerste Form einer Infektion – ein Teil mit erheblichen Beeinträchtigungen. Eine aktuelle Studie hat Ausmaß und Art der Sepsis-Folgen erfasst. Daraus lassen sich Behandlungsmöglichkeiten ableiten. Dr. Carolin Fleischmann-Struzek stellt die Ergebnisse vor.

Genesen, aber nicht gesund – dass nach Infektionen langwierige Folgeerkrankungen entstehen können, ist insbesondere durch die Corona-Pandemie in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt. Auch das „Post-Sepsis-Syndrom“ schränkt viele Sepsis-Überlebende langfristig in ihren Alltagsfähigkeiten und ihrer Lebensqualität ein. Deshalb werden die Folgeerkrankungen nach schweren, lebensbedrohlichen Infektionsverläufen (Sepsis) bereits seit Jahren erforscht. Um diese Patientinnen und Patienten besser versorgen zu können, bedarf es spezifischer, interdisziplinärer Versorgungs- und Rehabilitationsangebote.

Versteckte Katastrophe der öffentlichen Gesundheit.

Eine Sepsis entsteht, wenn die Antwort des Körpers auf eine Infektion die eigenen Gewebe und Organe schädigt. Sie ist die schwerste Komplikation von Infektionserkrankungen und ein lebensbedrohlicher medizinischer Notfall. In Deutschland werden jährlich etwa 320.000 Patientinnen und Patienten mit Sepsis im Krankenhaus behandelt. Auch etwa ein Drittel der stationär behandelten Covid-19-Patientinnen und -Patienten erfüllt die Kriterien für das Vorliegen einer Sepsis. Durch die verbesserte intensivmedizinische Behandlung überleben heute drei von vier Sepsis-Erkrankten die akute Phase. Doch sie leiden häufig unter langanhaltenden psychischen, physischen und kognitiven Folgeerkrankungen. Diese können die Lebensqualität oft langfristig einschränken, führen zu Pflegebedürftigkeit und verhindern eine Rückkehr in die Berufstätigkeit.
 
Die Langzeitfolgen entstehen sowohl durch die komplexen Schädigungen in der Akutphase der Sepsis als auch durch anhaltende Entzündungsprozesse und eine oft langfristige Einschränkung der Funktion des Immunsystems. Darüber hinaus können auch Medikamente im Rahmen der Akuttherapie und die Behandlung auf der Intensivstation selbst zu kognitiven beziehungsweise psychischen Folgen führen, beispielsweise zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Schon 2010 wurden Sepsis und Sepsis-Folgen in den USA als „hidden public health disaster“, also als versteckte Katastrophe der öffentlichen Gesundheit, bezeichnet: Das Leiden der Patientinnen und Patienten ist groß, aber die Aufmerksamkeit für dieses Thema noch zu gering. Das lag auch daran, dass bisher weitgehend unklar war, wie häufig Sepsis-Folgen auftreten und welche Menschen ein besonders hohes Risiko haben, daran zu erkranken.

Projekt generiert erstmals Daten.

Das Innovationsfonds-Projekt SEPFROK (Sepsis: Folgeerkrankungen, Risikofaktoren, Versorgung und Kosten, Förderkennzeichen 01VSF17010) widmete sich unter Beteiligung des Universitätsklinikums Jena, des Wissenschaftlichen Instituts der AOK und der Charité Berlin der Krankheitslast und Zufriedenheit mit der Nachsorge nach Sepsis. Die Studie hat erstmals umfassende Daten zum Post-Sepsis-Syndrom und seiner Versorgung in Deutschland generiert. Basierend auf deutschlandweiten AOK-Daten von 23 Millionen erwachsenen Versicherten zeigte sich, dass drei von vier Überlebenden im ersten Jahr nach Sepsis unter neu aufgetretenen psychischen, physischen oder kognitiven Erkrankungen aus dem Spektrum des Post-Sepsis-Syndroms leiden. Folglich sind in Deutschland jedes Jahr hunderttausende Patientinnen und Patienten betroffen.

Grafik: Vier Säulen der besseren Versorgung nach Sepsis

Quelle: Fleischmann-Struzek et al.: White Paper – Verbesserung der Versorgungs- und Behandlungsangebote für Menschen mit Sepsis- und Infektionsfolgen. Deutsche Medizinische Wochenschrift 2022; 147: 485–491

Folgeerkrankungen treten selten isoliert auf, sondern meist in mehreren Bereichen. Am häufigsten sind neuromuskuläre Erkrankungen, wie die Critical-Illness-Polyneuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems) beziehungsweise -Myopathie (Muskelschwäche), oder kardiovaskuläre Folgen. Daneben traten bei 19 Prozent der Überlebenden aber auch kognitive Einschränkungen und bei zwölf Prozent Depressionen auf. Unter neu aufgetretener chronischer Erschöpfung/Fatigue litten rund acht Prozent der Überlebenden nach Sepsis.

Sepsis-Folgen verursachen hohe Kosten.

Folgeerkrankungen sind oft mit einem Verlust der Selbstständigkeit verbunden. Nach Ergebnissen des SEPFROK-Projektes erhielt etwa ein Drittel der Menschen, die vor Sepsis nicht auf Pflege angewiesen waren, danach erstmals einen Pflegegrad. Zwei von drei Überlebenden wurden darüber hinaus im Jahr nach Sepsis erneut im Krankenhaus behandelt, häufig wegen Infektionen und erneuter Sepsis. Insbesondere diese Wiederaufnahmen führten zu hohen Versorgungskosten. Im Jahr nach der Akuterkrankung betrugen sie durchschnittlich rund 15.000 Euro pro Sepsis-Patient. Diese Summe schließt Krankenhaus- und ambulante Behandlungen, Rehabilitation, ambulante Medikamentenverschreibungen sowie die Versorgung mit Heilmitteln ein. Weitere direkte und indirekte Kosten, beispielsweise durch Arbeitsunfähigkeit, kommen hier noch hinzu. Sepsis-Folgeerkrankungen sind daher auch ein relevanter Kostenfaktor im Gesundheitssystem.

Parallelen zu Long-Covid.

Sepsis-Überlebende leiden nicht nur häufig unter Folgeerkrankungen, auch die Langzeitsterblichkeit ist hoch. Die Sterblichkeit unter denjenigen, die die akute Phase im Krankenhaus überlebten, betrug nach Daten des SEPFROK-Projektes 31 Prozent im Jahr nach der Sepsis. Damit verstarb an einer Sepsis insgesamt mehr als die Hälfte der Patienten im Jahr nach Diagnosestellung. Insbesondere vorerkrankte Patientinnen und Patienten haben ein erhöhtes Risiko, nach Sepsis einen ungünstigen Langzeitverlauf zu erleiden. Auch ein höheres Lebensalter, Infektionen mit multiresistenten Erregern oder im Krankenhaus erworbene Infektionen als Sepsis-Ursprung sind mit einem höheren Risiko für ein schlechtes Langzeit-Outcome assoziiert. Folgeerkrankungen betreffen aber nicht nur Patienten nach schweren Sepsis-Verläufen, sondern treten auch nach leichteren Erkrankungsformen und ohne Behandlung auf einer Intensivstation auf. Auch Menschen ohne vorbestehende Einschränkungen sind betroffen.
 
Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur Long-Covid-Erkrankung, die ebenfalls nach milderen Formen von Covid-19 auftreten kann. Auch hinsichtlich der Art der Folgeerkrankungen gibt es Überschneidungen zum Long-Covid-Syndrom – denn hier sind ebenfalls kognitive Einschränkungen, kardiovaskuläre Folgen, Fatigue oder psychische Folgen häufig. Das mag einerseits daran liegen, dass Patienten mit schweren Covid-19-Verläufen, wenn es beispielsweise zu Lungen- oder Nierenversagen kommt, die Kriterien für das Vorliegen einer Sepsis erfüllen. Andererseits gibt es Überschneidungen in den Mechanismen, die zum Auftreten von Post-Sepsis und Long-Covid-Symptomen führen. Doch es existieren auch Covid-spezifische Folgeerkrankungen, wie etwa der anhaltende Geschmacks- oder Geruchsverlust.

Rehabilitation hat große Bedeutung.

Aus den Überschneidungen können sich auch Synergien für die Behandlung von Post-Sepsis-Syndrom und Long-Covid ergeben. Bisher existieren für die vielfältigen Sepsis-Folgen nur wenige spezifische Therapieangebote. Zwar wurden im Kontext von Studien sogenannte Post-Intensivambulanzen für Überlebende nach lebensbedrohlichen, intensivstationsbehandelten Erkrankungen oder die spezifische Nachbetreuung im Sinne eines hausärztlichen Disease-Management-Programms untersucht. Letztlich fehlten aber ein eindeutiger Wirknachweis oder die Übernahme in die Regelversorgung. Insbesondere erscheint die Behandlung in universitären Ambulanzen für die große Anzahl Patientinnen und Patienten auch nur schwer umsetzbar. Auch hinsichtlich der Rehabilitation bei Sepsis-Überlebenden fehlen häufig spezifische Angebote.

Der Rehabilitation kommt insgesamt eine große Bedeutung zu, da sie helfen kann, die funktionelle Unabhängigkeit nach Sepsis wiederzuerlangen. So konnte gezeigt werden, dass Sepsis-Überlebende hinsichtlich funktioneller Einschränkungen von einer fachübergreifenden Frührehabilitation im Krankenhaus profitieren.

Rehabilitationsbehandlungen nach der Entlassung konnten in mehreren Studien das Langzeitüberleben von Sepsis-Patienten steigern. Trotz dieser ermutigenden Hinweise erhielten nach Ergebnissen der SEPFROK-Studie nur rund vier Prozent der Überlebenden eine fachübergreifende Frührehabilitation und sechs Prozent eine Rehabilitation im Anschluss an die Akutbehandlung. Eine Befragung im Rahmen der Studie ergab, dass sich Betroffene und ihre Angehörigen einen besseren Zugang zu sowie umfangreichere und spezifischere Nachsorgeangebote wünschen. Daneben geben sie insbesondere einen Bedarf an struktureller Unterstützung (Unterstützung bei der Beantragung von Heil- und Hilfsmitteln, finanzielle Unterstützung) an und wünschen sich eine bessere Patientenedukation zum Thema Sepsis und Sepsis-Folgen.

Expertenbeirat gibt Empfehlungen.

Wie kann also eine bessere Versorgung nach Sepsis gelingen? Erste Empfehlungen dazu wurden jüngst basierend auf den Ergebnissen der SEPFROK-Studie von einem interdisziplinären Expertenbeirat (aus den Bereichen Allgemeinmedizin, Anästhesiologie und Intensivmedizin, Infektiologie, Rehabilitation, Versorgungsforschung, Gesundheitsökonomie sowie mit Patientenvertretern) entwickelt (siehe Grafik „Vier Säulen der besseren Versorgung nach Sepsis“). Sie basieren auf vier Säulen: Erstens sollte ein einheitlicher Behandlungspfad mit strukturiertem Entlass- und Überleitungsmanagement am Übergang zwischen stationärer Akutversorgung und ambulanter Weiterbehandlung beziehungsweise Rehabilitation etabliert werden. Als Voraussetzung für eine adäquate Behandlung sollte ein regelmäßiges Screening auf häufige Folgeerkrankungen von Sepsis-Überlebenden entlang dieses Behandlungspfades erfolgen, erstmalig in den ersten drei Monaten nach Entlassung aus dem Akutaufenthalt. Dazu stehen etablierte Kurz-Fragebögen zur Verfügung. Zweitens sollten interdisziplinäre, sepsis-spezifische Rehabilitations- und Nachsorgeangebote geschaffen werden. Die Rehabilitationsmaßnahmen sollten möglichst bereits im Akutaufenthalt beginnen beziehungsweise an diesen anknüpfen, um einen progredienten Funktionsverlust bei den Patienten zu vermeiden.

Betroffene und Angehörige stärker unterstützen.

Eine adäquate Nachsorge schließt auch eine vorausschauende Behandlungsplanung und die regelmäßige Überprüfung von Impfstatus und Medikamentengaben ein. Insbesondere durch Impfungen gegen Influenza oder Pneumokokken lassen sich häufige Re-Infektionen und Sepsis, aber auch kardiovaskuläre Ereignisse als Folge von Sepsis vermeiden. Drittens sollten Maßnahmen ergriffen werden, um Erkrankte und Angehörige zu stärken und zu unterstützen. Dazu sollte die spezifische Gesundheitskompetenz zum Schutz vor erneuter Sepsis sowie für eine bessere Bewältigung der Folgeerkrankungen gefördert werden. Dazu können entsprechende Patienteninformationen oder Patientenleitlinien beitragen. Es wird viertens mehr Forschung zu Ursachen, Prävention und Therapie von Sepsis- und Infektionsfolgen benötigt, um deren Entstehung besser zu verstehen und neue Therapie- und Versorgungsansätze identifizieren, implementieren und evaluieren zu können.

Nachsorge verbessern.

Voraussetzung sind neue, sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen und der entsprechende sozialrechtliche Rahmen. Sepsis darf nicht nur als Akuterkrankung verstanden werden, sondern als komplexes Syndrom mit vielfältigen langfristigen Beschwerden, bei dem Betroffene genau wie nach anderen Akuterkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall eine umfassende, spezifische Nachsorge benötigen. Um diese Nachsorge zu realisieren, muss die Versorgung von Sepsis-Überlebenden noch mehr als bisher in den Fokus von Gesundheitspolitik, Entscheidungsträgern und Versorgern im Gesundheitswesen rücken. So fordern zahlreiche medizinische Fachgesellschaften in einem Memorandum einen Nationalen Sepsisplan, der auch Maßnahmen zur Verbesserung der Nachsorge nach Sepsis einschließt. Auch die Weltgesundheitsorganisation hat in einer Sepsis-Resolution den Bedarf einer verbesserten Akut- und Langzeitversorgung von Sepsis-Patientinnen und -Patienten in den Mitgliedsstaaten unterstrichen.

Institut entwickelt Qualitätssicherungsverfahren.

Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) unternommen: Er hat das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen beauftragt, ein datengestütztes Qualitätssicherungsverfahren zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Sepsis zu entwickeln. Zu dessen Zielen gehört die Reduzierung von Morbidität und Mortalität sowie Pflegebedürftigkeit. Mit der Initiative „Deutschland erkennt Sepsis“ hat das Aktionsbündnis Patientensicherheit außerdem eine Plattform für Informationen rund um das Thema Sepsis und Sepsis-Folgen geschaffen.

Weitere Versorgungsforschungsprojekte, die durch den Innovationsfonds des GBA gefördert werden oder wurden, nehmen die Versorgung von Sepsis-Überlebenden und Versorgungsmodelle genauer in den Blick – damit Sepsis und Sepsis-Folgen irgendwann keine „versteckte Katastrophe“ bleiben, sondern sich die Versorgung der vielen Betroffenen nachhaltig verbessert und sich die hohe Belastung des Gesundheitssystems verringert.

Carolin Fleischmann-Struzek leitet das Projekt SEPFROK (Sepsis: Folgeerkrankungen, Risikofaktoren, Versorgung und Kosten) im Forschungs­bereich Versorgungsforschung der Infektionserkrankungen am Institut für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene im Universitätsklinikum Jena.
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