Interview

„Ankerland füllt eine Lücke“

Nach einer Traumatisierung durch häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch oder Krieg benötigen Kinder eine bedarfsorientierte Intensivtherapie, sagt Dr. Andreas Krüger. Der Psychiater hat den Verein Ankerland gegründet, um eine Versorgungslücke zu schließen.

Herr Dr. Krüger, wie viele Kinder in Deutschland sind von Traumatisierung betroffen und wodurch?

Andreas Krüger: Mehr als 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen erleben heute potenziell traumatisierende Erfahrungen. Einige leiden in Folge unter einer Art Stresskrankheit. Bei diesen Traumafolgestörungen im engeren Sinne handelt es sich neben dissoziativen Störungen um die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Untersuchungen zeigen, dass rund vier bis zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen allein unter einer PTBS leiden. Sie sind Opfer von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und Vernachlässigung. Circa ein Viertel ist Opfer von Unfällen oder Naturkatastrophen.

Porträt von Andreas Krüger, ärztlicher Leiter des Ankerland-Trauma-Therapiezentrums

Zur Person

Dr. Andreas Krüger ist ärztlicher Leiter des Ankerland-Trauma-Therapiezentrums. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist Experte für die Behandlung psychisch traumatisierter Kinder und Jugendlicher.

Wie ist der Verein Ankerland entstanden?
 
Krüger: Ankerland ist 2008 aus meiner Arbeit als Oberarzt am Uniklinikum Eppendorf entstanden. Dort habe ich 2001 eine der ersten Trauma-Ambulanzen für Kinder und Jugendliche in Kooperation mit Polizei, Rettungswesen, Jugendämtern und Opferhilfe aufgebaut. Die meisten akut betroffenen Kinder hatten aber Geschichten von wiederholter Traumatisierung und schwere, komplexe Trauma-Folgestörungen. Nachfrage und Erfolg des Angebots waren Anlass für die Gründung.

Wie kommen Betroffene zum Ankerland-Therapiezentrum?

Krüger: Es verweisen Therapeutinnen und Therapeuten, Kliniken, Opfer- und Jugendhilfe, Jugendämter sowie Kinderärztinnen und -ärzte auf uns. Es melden sich aber auch Bezugspersonen und Jugendliche selbst an.

Welche Art von Unterstützung erhalten die Kinder und Jugendlichen?

Krüger: Die Kinder erhalten ein multiprofessionelles Angebot wie in einer Tagesklinik: sprachorientierte Traumatherapie sowie Kreativ- und Körpertherapie. Die Patientinnen und Patienten werden einzeltherapeutisch behandelt. Wir setzen auf die Zusammenarbeit mit dem Umfeld. Für Eltern und Institutionen bietet unser Infotelefon Orientierung an. Zudem halten wir ein begrenztes niederschwelliges Beratungsangebot vor.

Wir setzen auf die Zusammenarbeit mit dem Umfeld.

Das Therapiezentrum behandelt auch unbegleitete geflüchtete Jugendliche. Worunter leiden sie und wie gehen Sie hier vor?

Krüger: Geflüchtete bringen oft eine psychische Grundstabilität mit – nur so haben sie es allein bis zu uns geschafft. Auch wenn sie Terror, Missbrauch, Folter erlebt oder bezeugt haben, sind sie oft gut zugänglich. Zum Vertrauensaufbau brauchen sie einen kultursensiblen Umgang. Neben einer komplexen Trauma-Folgestörung leiden viele unter einer Art Überlebensschuld. Sorgen um die Familie im Ursprungsland und Aufenthaltsstatus hemmen oft Behandlungserfolge.

Wie sieht es insgesamt mit der Ver­sorgung traumatisierter Kinder in Deutsch­land aus?

Krüger: Wir haben eine in Teilen von Krankenkassen finanzierte Versorgung. Es fehlen aber spezifische ambulante und teilstationäre traumatherapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche, die von den Kassen finanziert werden. Ankerland steht sein innovativer Ansatz gerade im Weg: Er passt nicht in die Finanzierungsschablone der Kostenträger. Eine längere vollstationäre Hospitalisierung ist meist nicht zu empfehlen. Wir brauchen eine milieunahe, bedarfsorientierte Intensivtherapie. Diese Lücke füllt Ankerland derzeit noch drittmittelfinanziert.

Stefanie Roloff führte das Interview. Sie ist freie Journalistin in Berlin.
Bildnachweis: privat