Sprachbarrieren können die Arzt-Patienten-Kommunikation behindern.
Diversität

Gesundheitsversorgung auf Augenhöhe

In Deutschland mangelt es an Strukturen in der Medizin und Pflege, die den Ansprüchen einer Migrationsgesellschaft gerecht werden. Das belegen Studien und Praxisberichte. Ein Projekt der Charité soll Diskriminierung abbauen und Chancengleichheit ermöglichen. Von Martina Merten

Noch eine Stunde bis Mitternacht.

Die Notfallambulanz eines Berliner Klinikums platzt wieder einmal aus allen Nähten. Pfleger versuchen, den vielen Patientinnen und Patienten, die sich trotz der vorgerückten Stunde an diesem Ort wiederfinden, Herr zu werden. Krankenschwestern und Pfleger schwirren durch die Gänge. Sie legen Zugänge, führen Erstgespräche und sehen gestresst aus. Ein Arzt ist auf der Suche nach der einzigen Kollegin, die innerhalb des Klinikums russisch spricht. Ohne sie, so gibt er verzweifelt zu verstehen, könne er mit der neuen Patientin nicht kommunizieren. Und ohne Kommunikation, sagt er, wird es schwer. Die russisch sprechende Krankenschwester signalisiert ihm, dass sie gleich – irgendwann – zu ihm komme. Wie lange das dauern wird, ist wegen der vielen Notfallpatienten ungewiss.

Empowerment für Diversität.

Eine Szene wie diese spielt sich in etlichen deutschen Kliniken ab. Mangelnde Sprachkenntnisse, so die Forschung, stellen ein erhebliches Hindernis für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen von ausländischen Patienten dar. „Ich forsche seit 25 Jahren zu Migrantinnen und Migranten in der Gesundheitsversorgung. In diesen 25 Jahren hat sich in der Praxis nicht viel verändert“, unterstreicht Theda Borde, ehemalige Rektorin und Professorin für sozialmedizinische und medizinsoziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit, Public Health an der Berliner Alice Salomon Hochschule.

Gesundheitsversorgung muss individuelle Vielfalt und Bedürfnisse berücksichtigen.

Diskriminierung, Rassismus, mangelnde Sensibilität gegenüber anderen und anderem seien im Gesundheitswesen noch immer an der Tagesordnung, macht die Leiterin des gerade gestarteten Projekts „Empowerment für Diversität“ deutlich.

Dieses Projekt ist an der Charité angesiedelt und wird von der Stiftung Mercator mit 2,5 Millionen Euro gefördert. Das übergeordnete Ziel: Es sollen Kompetenzen und Strukturen für Diversitätsgerechtigkeit und Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung geschaffen werden. Was sperrig und ein wenig theoretisch klingt, soll vor allem in der Praxis zu konkreten Veränderungen führen.

Beispiele guter Praxis.

Sprachmittlungssysteme oder in mehreren Sprachen verfasste Informationstafeln in Kliniken und Praxen könnten sich als „Beispiele guter Praxis“ in der Fläche etablieren, beschreibt Professor Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie mit Zentrum onkologische Chirurgie an der Charité und Co-Projektleiter, die mit dem Projekt verbundenen Pläne.

  • Andere Herkunft, andere Nutzung: Studien belegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchtgeschichte in Deutschland auf Zugangsbarrieren in der Gesundheitsversorgung stoßen. Die Folge: Sie nehmen Gesundheitsangebote weniger in Anspruch. Die Qualität ihrer Versorgung nimmt ab.
  • Es gibt eine Vielfalt an Barrieren: Sprachliche Hürden, fehlende Gesundheitsinformationen, fehlende Aufklärung in verschiedenen Sprachen, fehlende mehrsprachige Therapie- und Behandlungsangebote sowie unzureichend auf andere Kulturen eingestelltes Gesundheitspersonal. Aber auch Stereotypisierung und Vorurteile zählen zu den am häufigsten beobachteten Hindernissen für Menschen aus dem Ausland.
  • Der international vergleichende Migrant Integration Policy Index (MIPEX) belegt, dass die Bundesrepublik zu den Ländern mit den stärksten Einschränkungen für Asylbewerberinnen und -bewerber sowie für irreguläre Migrantinnen und Migranten zählt. MIPEX sieht hier einen hohen Handlungsbedarf.

Martina Merten

Wichtig sei, so betonen Sehouli und Borde, dass das Thema Diversität und Chancengleichheit in den Köpfen der Gesellschaft ankomme – und zwar in allen Köpfen. Erlebte Diskriminierung, wie sie derzeit häufig vorkomme, führe zu höheren Kosten für das Gesundheitswesen. „Wenn sich eine Frau nicht richtig verstanden fühlt oder selbst kaum etwas versteht, geht sie tendenziell zu fünf verschiedenen Ärztinnen – und nicht nur zu einer“, erklärt Borde das häufig beobachtete Dilemma.

Kompetenzen verankern.

Um Beispiele guter Praxis wie das der Sprachmittlung an verschiedenen Orten Deutschlands aufzubauen, wählt das fünfköpfige Diversitäts-Projektteam in einem ersten Schritt sechs bis acht Partnerinstitutionen aus. Welche das sein werden, wird im Rahmen einer Ausschreibung entschieden, die zeitnah starten soll, sagt Borde. Ein weiterer Pfeiler des Projekts ist, Kompetenzen und Haltungen für Diver­sitätsgerechtigkeit in der Aus-, Weiter- und Fortbildung zu verankern oder weiter zu stärken. Zielgruppe sind Medizinstudierende, Studierende von Gesundheitsberufen, Sozialer Arbeit oder Auszubildende von Gesundheitsfachberufen. Auch diesem Baustein geht eine Ausschreibung voraus, im Zuge derer das Projektteam Partnerinstitutionen auswählt, die die Bandbreite aus Studium, Aus-, Weiter- und Fortbildung abdecken.

Ebenso sollen Migrantinnen und Migranten beziehungsweise Migrantenorganisationen zu den Kooperationspartnern zählen. Der so entstehende Expertenkreis wird gemeinsam Inhalte zu diversitätssensibler Versorgung entwickeln. Dies können Inhalte für Online- oder Präsenzmodule sein oder sogar für prüfungsrelevante Themen.

Schwachstellen beseitigen.

Ganz von vorne müssten die Expertinnen und Experten nicht anfangen, erläutert Dr. Ute Siebert, die dem Projektteam als Ethnologin, Politikwissenschaftlerin und Dozentin für Diversitätskompetenz im Gesundheitswesen angehört. Es gebe an der Fortbildungsakademie der Charité für Ärzte, Pflegekräfte und Sozialdienstmitarbeiter bereits eine Reihe zu interprofessionellem und interkulturellem Arbeiten in der Klinik. Diese ist im Rahmen des Projektes „Ipika – InterProfessionelles und InterKulturelles Arbeiten in Medizin, Pflege und Sozialdienst“ entstanden. Die Robert-Bosch-Stiftung hatte das Projekt von 2016 bis 2020 gefördert.

Projekte bündeln.

Als eines der Hauptziele beschreibt das Projektteam, ein Netzwerk zu etablieren und alle Aktivitäten im Dialog mit Akteurinnen und Akteuren sowie Institutionen und politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern anzugehen. Es solle Schluss sein mit Teilprojekten, die nicht aufeinander aufbauten. Um Bündelung der Aktivitäten geht es auch der Stiftung Mercator. Projektmanagerin Mariam Ahmed beschreibt die Hoffnungen der Essener Stiftung: „Es gibt nicht die eine Lösung, nach der wir suchen, dafür geschieht Diskriminierung viel zu verdeckt. Was wir uns wünschen, ist eine auf die individuelle Vielfalt von Menschen und ihre Bedürfnisse eingestellte Gesundheitsversorgung. Normierungslogiken und Schubladendenken sind kontraproduktiv.“

Martina Merten ist Global Health-Spezialistin und publiziert regelmäßig über Themen globaler Gesundheit.
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