Vor und nach der Arbeit warten auf viele Menschen Angehörige mit Pflegebedarf.
Nordrhein-Westfalen

Pflege im Fokus von Unternehmen

Wer einen Angehörigen pflegt und gleichzeitig erwerbstätig ist, braucht hohe zeitliche und organisatorische Flexibilität. Betriebliche Pflege-Guides helfen in dieser Situation. Sie qualifizieren sich im Programm „Vereinbarkeit von Beruf & Pflege“. Von Adelheid von Spee

Etwas mehr als 80 Prozent

der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause versorgt. Häufig übernehmen Angehörige einen großen Teil der Pflege und Betreuung. Eine wachsende Zahl pflegender Angehöriger ist gleichzeitig erwerbstätig. Die Begleitung eines Menschen mit Pflegebedürftigkeit versetzt die Angehörigen in ständige Alarmbereitschaft. Dies fordert von Erwerbstätigen eine hohe Zeit- und Organisationsflexibilität. Das Landesprogramm „Vereinbarkeit von Beruf & Pflege“ in Nordrhein-Westfalen leistet hier seit rund einem Jahr Hilfestellung. Im Zentrum steht die Qualifizierung von betrieblichen „Pflege-Guides“. Sie sollen die Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen im Blick haben, um Belastungen rechtzeitig zu erkennen und aufzufangen.

Pflege schränkt Berufstätigkeit ein.

Oft begründen Mitarbeitende ihren Flexibilitätsbedarf nicht mit der privaten Pflegeverantwortung. Er wird aber sichtbar, wenn sie etwa Termine nicht einhalten, Dienste verschieben müssen oder eine Reduzierung der Arbeitszeit wünschen. Hier ist ein betrieblicher Beitrag zur Sicherung der Arbeits- und Pflegesituation notwendig, um die Berufstätigkeit der Mitarbeitenden aufrechtzuerhalten. Bereits bei einem regelmäßigen zeitlichen Aufwand für die Pflege von mehr als einer Stunde pro Tag wirkt sich dies auf die Erwerbsquote aus. Bei pflegenden Angehörigen, die mit der pflegebedürftigen Person in einem Haushalt leben, nimmt die Erwerbsquote um 21 Prozent ab, bei getrennt wohnenden Angehörigen um elf Prozent (Johannes Geyer, 2016, siehe Lese- und Webtipps).
 
Das Landesprogramm Vereinbarkeit von Beruf & Pflege NRW flankiert die Entwicklung von Maßnahmen und Strukturen, die eine berufliche Teilhabe von Menschen mit Pflegeaufgaben stärken und erhalten. Damit leistet es einen Beitrag zur Fachkräftesicherung. Mit der gleichen Zielrichtung war zuvor bereits die Landesinitiative „Beruf und Pflege vereinbaren – die Hessische Initiative“ angetreten. In Nordrhein-Westfalen fördern das Sozialministerium, die Landesverbände der Pflegekassen und der Verband der Privaten Krankenversicherung das Programm Vereinbarkeit von Beruf & Pflege zunächst für drei Jahre mit insgesamt 2,4 Millionen Euro.

AOK finanziert Schulungen.

Das Landesprogramm will Unternehmen, Behörden und Organisationen unterstützen, sich pflegesensibel auszurichten und bedarfsorientiert betriebliche Pflege-Guides zu qualifizieren. Die AOK Rheinland/Hamburg und die AOK NordWest führen die Schulungen zum betrieblichen Pflege-Guide nach einheitlichem Curriculum in ganz NRW durch und finanzieren diese. Die Qualifizierung startet mit einem zweistündigen Online-Seminar, gefolgt von zwei Tagen Schulung in Präsenz. Nach drei bis vier Monaten findet online ein Folgetreffen statt, das dem Erfahrungsaustausch und der kollegialen Fallbesprechung dient. Zusätzlich gilt es für die Arbeitgeber, sich mit den bestehenden Angeboten der regionalen Beratungsund Pflegeinfrastruktur zu vernetzen.

Jede zehnte Arbeitnehmerin und jeder 13. Arbeitnehmer übernimmt ergänzend zur Erwerbsarbeit Pflegeverantwortung für eine oder mehrere Personen mit Pflegegrad (DGB-Index Gute Arbeit 2018).

Zusätzlich vereinbaren auch Beschäftigte Beruf und Pflegeaufgaben, deren Angehörige zwar (noch) keinen Pflegegrad haben, aber mit starken Einschränkungen oder mit chronischen Erkrankungen leben, etwa während onkologischer Therapiephasen, längerfristigen Folgen von Unfällen oder ähnlichem.

Wer regelmäßig eine Stunde oder mehr pro Werktag Sorge- oder Pflegeaufgaben übernimmt, profitiert nachhaltig von unterstützenden Maßnahmen zur Pflegevereinbarkeit im Betrieb (Johannes Geyer, 2016).

Das Servicezentrum Pflegevereinbarkeit in Trägerschaft des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) verantwortet die Umsetzung des Landesprogramms. Die Expertise des KDA bei der Entwicklung regionaler und kommunaler Infrastruktur hilft bei der Umsetzung. So lassen sich etwa die Strukturen der Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz NRW und der Koordinierungsstellen der Pflegeselbsthilfe NRW für das Landesprogramm Vereinbarkeit Beruf & Pflege nutzen.

Kontaktadressen für Kleinstbetriebe.

Am Landesprogramm nehmen inzwischen rund 100 Unternehmen als „Vereinbarkeitspartner“ teil. Sie haben die Charta zur Vereinbarkeit von Beruf & Pflege NRW unterzeichnet. Die Charta ist eine Selbstverpflichtung, sich im Betrieb pflegesensibel aufzustellen und dieses nach innen und außen sichtbar zu machen. Zusätzlich setzen viele Unternehmen betriebliche Pflege-Guides ein – als Ansprechpersonen zu allen Belangen der Pflegevereinbarkeit. Die Vereinbarkeitspartner und alle betrieblichen Pflege-Guides erhalten einen Zugang zum betrieblichen „Pflegekoffer“ NRW. Dabei handelt es sich um eine thematisch gegliederte Informationssammlung rund um die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.

Eine pflegesensible Unternehmenskultur zeigt sich durch Anerkennung, Rückenstärkung und Vermittlung von Sicherheit.

Herzstück ist eine strukturierte und regionalisierte Checkliste, mit deren Hilfe passgenaue Informationen und regionale Kontaktadressen zu finden sind. Die regionalisierte Checkliste ist in Zusammenarbeit mit den Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz NRW erstellt worden. Der betriebliche Pflegekoffer eignet sich auch besonders für Kleinstunternehmen ohne betrieblichen Pflege-Guide, um schnell und auf kurzem Wege pflegende Beschäftigte zu unterstützen.

Wettbewerbsvorteil im Mittelstand.

Vereinbarkeitsangebote sind Teil einer familienfreundlichen Unternehmenskultur. Hier gilt es, alle Mitarbeitenden mit den unterschiedlichsten Vereinbarkeitsthemen im Blick zu haben. Dies fordert von den Führungskräften eine veränderte Führungskompetenz. Die Fähigkeit der Problemlösung tritt an erste Stelle. Eine familienfreundliche Unternehmenskultur ist geprägt durch flexibel und eigenverantwortlich tätige Mitarbeitende. Hierzu ist eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten unabdingbar. Diese Unternehmenskultur zeigt sich als ein Wettbewerbsvorteil auch im deutschen Mittelstand.

Laut KfW Research Nr. 278 (2020, siehe Lese- und Webtipps) setzen bereits zwei von drei Mittelständlern (63 Prozent) konkrete Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie um. Doch ist das Thema Pflege im Mittelstand mit sechs Prozent bisher kaum präsent. Oft wird es noch tabuisiert. Im Rahmen ihrer Dissertation an der Steinbeis-Hochschule Berlin im Jahr 2019 ermittelte Dr. Anja Quednau, dass aus Sicht potenzieller Bewerberinnen und Bewerber ein nicht-familienfreundliches Unternehmen zwölf Prozent mehr Gehalt anbieten muss, um die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf auszugleichen.

Verständnis für pflegende Mitarbeitende.

Beschäftigte, die in ihrer Familie Pflegesituationen bewältigen müssen, benötigen Verständnis und Unterstützung vom Arbeitgeber und ihren Teams, um weiterhin berufstätig sein zu können. Dies gilt besonders bei akuten Veränderungen zu Beginn einer Pflegesituation oder bei plötzlichen Ereignissen, wie beispielsweise einem Sturz oder einem Schlaganfall des Angehörigen. Hier kann das Unternehmen den Mitarbeitenden zum Beispiel durch betriebliche Pflege-Guides oder lebensphasenorientierte Vorgesetzte aktiv unterstützen. Eine pflegesensible Unternehmenskultur öffnet Räume, damit pflegende Mitarbeitende vertrauensvoll über ihre Situation sprechen können und auf Verständnis treffen.

  • Vereinbarkeit Beruf & Pflege. Landesprogramm NRW
  • Jennifer Abel-Koch: Mittelständler setzen im Wettbewerb um Fachkräfte auf familienfreund­liche Arbeitsbedingungen. KfW Research Nr. 278, 2020.  Download
  • Johannes Geyer: Informell Pflegende in der deutschen Erwerbs­bevölkerung: Soziodemografie, Pflegesituation und Erwerbsverhalten. In: Zentrum für Qualität in der Pflege (Hrsg.): ZQP-Themenreport: Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. 2016. Download
  • Netzwerkbüro „Erfolgsfaktor Familie“: Checkheft familienorientierte Personalpolitik für kleine und mittlere Unternehmen. 2022. Download

Damit dies gelingt, sollte das Thema der Pflegevereinbarkeit auf allen Ebenen kommuniziert werden und den Führungskräften konkrete Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege bekannt sein. Eine pflegesensible Unternehmenskultur zeigt sich durch Anerkennung, Rückenstärkung und Vermittlung von Sicherheit, wie Professorin Adelheid Kuhlmey im Checkheft von „Erfolgsfaktor Familie“ (2022) betont, selbst wenn sich zeitweise die Pflegesituation reduzierend auf die Berufstätigkeit auswirkt. Es geht darum, die Belastungen zu erkennen und die Vereinbarkeit zu verbessern. Hierzu sind innerbetriebliche und regionale Vereinbarkeitsstrukturen notwendig.

Adelheid von Spee ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Servicezentrum des Landesprogramms „Vereinbarkeit von Beruf & Pflege“ NRW (Trägerschaft: Kuratorium Deutsche Altershilfe).
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