Interview

„Wohnungslose oft psychisch krank“

Bei rund 70 Prozent von 651 wohnungslosen Menschen haben Forschende in einer Studie Hinweise für eine mögliche nicht-diagnostizierte psychische Erkrankung gefunden. Zur Behandlung sollte es niederschwellige Angebote geben, sagt Studienleiterin Franziska Bertram.

Frau Bertram, wie haben Sie den Kontakt zu den wohnungslosen Menschen hergestellt?

Franziska Bertram: Durch Ankündigungen in den Versorgungseinrichtungen für wohnungslose Menschen wussten dort viele der Klienten von unserer Studie. Repräsentativ ist die Stichprobe zwar wahrscheinlich nicht, aber wir haben die Daten in zahlreichen verschiedenen Einrichtungen an vielen Orten erhoben. Menschen, die keinen Kontakt zu Versorgungseinrichtungen haben, konnten wir allerdings nicht erreichen.

Porträt von Franziska Bertram, Ärztin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Zur Person

Franziska Bertram, Ärztin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), leitet eine multizentrische Studie zum Gesundheitszustand wohnungsloser Menschen. Dazu haben Forschende des UKE 651 Frauen und Männer in den Metropolregionen Hamburg, Frankfurt, Leipzig und München befragt und untersucht.

Wie ist es insgesamt um den Gesundheitszustand von wohnungslosen Menschen bestellt?

Bertram: Wohnungslose Menschen sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger krank. Viele haben kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen, wie Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte und Diabetes. Mit validierten Screening-Instrumenten haben wir bei rund 70 Prozent der Teilnehmenden Hinweise für eine unbekannte psychische Erkrankung aufgedeckt. Dabei hat die mögliche Alkohol­abhängigkeit einen Anteil von 40 Prozent. Die mögliche Abhängigkeit von illegalen Substanzen liegt zwischen 20 und 30 Prozent – oft in Verbindung mit Angststörungen und Depressionen. Allerdings lag bei lediglich 26 Prozent der Probanden eine entsprechende ärztliche Diagnose vor. Die Rate der nicht diagnostizierten und unbehandelten psychischen Erkrankungen ist unter Wohnungslosen hoch. Eine psychiatrische oder psychotherapeutische Versorgung erfordert Langfristigkeit, die sich für wohnungslose Menschen oft nicht sicherstellen lässt.

Wie beurteilen wohnungslose Menschen selbst ihren Gesundheitszustand?

Bertram: In einer früheren Erhebung aus dem Jahr 2020 kam heraus, dass wohnungslose Menschen ihren Gesundheitszustand sogar besser einschätzen als die Allgemeinbevölkerung. Das liegt vermutlich daran, dass sich Menschen ihrer Umwelt anpassen und Wohnungslose möglicherweise geringere Ansprüche an ihre eigene Gesundheit haben.

Ein interdisziplinäres Team kann wohnungs­lose Menschen medizinisch auffangen.

Wie viele wohnungslose Menschen nutzen Gesundheitsangebote?

Bertram: In unserer Studie gaben rund 70 Prozent der Menschen an, in den vergangenen zwölf Monaten einen Arzt aufgesucht zu haben. Da das nicht vom Versicherungsstatus abhing, vermuten wir, dass es überwiegend Notfallkontakte oder Kontakte mit Ärzten außerhalb des medizinischen Regelsystems waren – in Obdachlosen-Unterkünften oder in mobilen Gesundheitsangeboten.

Wie ließe sich die Gesundheitsversorgung für Wohnungslose verbessern?

Bertram: Gerade eine Psychotherapie und die Therapie von chronischen Erkrankungen funktionieren nur, wenn es einen festen Ort mit festen Ansprechpartnern gibt. Die Elisabeth-Straßenambulanz in Frankfurt ist so ein Beispiel: Das Angebot ist niederschwellig, mit geregelten Öffnungszeiten, gleichen Standards und Wartebereichen wie in einer üblichen Praxis. In der Ambulanz arbeiten Physiotherapeuten, Pflegekräfte, Ärzte, Psychotherapeuten sowie Psychiater Hand in Hand mit Sozialberatern und Integrationshelfern. Dieses interdisziplinäre Team kann wohnungslose Menschen medizinisch auffangen. Die Elisabeth-Straßen­ambulanz hat in Frankfurt einen großen Patientenstamm. Ähnliche Einrichtungen gibt es auch in anderen Städten, aber sie sind nicht die Regel.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: UKE