Interview

„Städter verarbeiten Stress anders“

Wer in der Stadt lebt, trägt ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen, sagt PD Dr. med. Mazda Adli. Der Stressforscher betont, dass die Stadtplanung dem entgegenwirken kann – indem sie Menschen Raum lässt, sich zu begegnen und etwas zu gestalten.

Herr Dr. Adli, wie beeinflusst das Stadtleben die menschliche Psyche?

Mazda Adli: Das Risiko für Stadtbewohner, an einer Depression, Angststörung oder Schizophrenie zu erkranken, ist im Vergleich zu Landbewohnern erhöht. Dabei spielt sozialer Stress vermutlich die größte Rolle. Dieser entsteht unserer Hypothese nach aus der Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation und dem Gefühl, an der eigenen Situation nichts ändern zu können. Stadtleben verändert die stressabhängige Emotionsverarbeitung.

Portrait Mazda Adli

Zur Person

PD Dr. med. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs „Affektive Störungen“ an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité. 2017 ist sein Buch „Stress and the city“ erschienen.

Was passiert dabei im Gehirn?

Adli: Untersuchungen zeigen, dass Städter in der Verarbeitung von Stress eine andere Hirnaktivität haben als Landbewohner. Hirnareale, die mit der Verarbeitung von bedrohlichen Umweltreizen und negativen Emotionen zu tun haben, scheinen aktiver zu sein, wenn man unter Stress gerät, so zum Beispiel der Mandelkern. Auch in Teilen der sogenannten Gürtelwindung steigt die Aktivität mit der Anzahl der Jahre, die jemand in der Stadt lebt. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Veränderungen ursächlich mit dem höheren Risiko für Stressfolge-Erkrankungen zusammenhängen. Vor allem, wenn neben dem sozialen Stadtstress aber auch genetische, persönlichkeitsbedingte oder andere Risikofaktoren eine Rolle spielen.

Im interdisziplinären Forum Neurourbanistik wollen Sie dem Phänomen Stadtstress weiter auf den Grund gehen. Wie gehen Sie vor?

Adli: Wir sind ein Zusammenschluss aus Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen, darunter Neurowissenschaftler, Psychiater, Architekten und Stadtplaner. Gerade entwickeln wir die Charta der Neurourbanistik, eine Handlungsempfehlung, wie Städte zu gesundheitsfördernden Lebensräumen werden können. Zudem wollen wir die Rolle von sozialem Stress für die psychische Gesundheit genauer untersuchen, indem wir das alltägliche Stresserleben von Stadtbewohnern in Berlin messen.

Einer der größten Krankmacher der Stadt ist die soziale Isolation.

Das gelingt zum Beispiel mit Methoden der Psychogeografie, indem wir anhand einer App und durch Social Media-Daten auswerten, welche Emotionen mit bestimmten Aufenthaltsorten verbunden sind. So wollen wir eine Stresslandkarte erstellen und mittels Virtual Reality untersuchen, welche stadtplanerischen Änderungen das Erleben von Stress vermindern.

Wie kann das einzelne Individuum der Stadtstress-Falle entkommen?

Adli: Einer der größten Krankmacher in der Stadt ist die soziale Isolation. Es hilft alles, was dieser entgegenwirkt: Rausgehen, sich die eigene Wohnumgebung vertraut machen, Kontakt mit anderen aufnehmen, den Kiez mitgestalten. Deshalb haben öffentliche Plätze und Kultureinrichtungen einen zentralen Public-Health-Auftrag. Zudem benötigt jeder Mensch Rückzugsräume. Nur so kann er etwas an seiner Situation ändern und fühlt sich dem Trubel der Stadt nicht ausgeliefert.

Wie sähe Ihre Traumstadt aus?

Adli: Die ideale Stadt gibt es nicht, weil Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Ich plädiere für eine Stadt, die Raum für Mitwirkung lässt. Eines meiner liebsten Beispiele ist der Berliner Mauerpark. Er wird angenommen, nicht weil er besonders schön ist, sondern weil die Menschen dort selbst entscheiden können, was sie machen, etwa Karaoke singen.

Stefanie Roloff stellte die Fragen. Sie ist freie Journalistin in Berlin.
Bildnachweis: Fliedner/Koroll