Einwurf

Nicht über uns ohne uns

Wenn sich Menschen mit und ohne Behinderungen im Alltag begegnen, können Barrieren verschwinden, sagt Raul Krauthausen. Der Rollstuhlfahrer und Sozial-Aktivist wünscht sich mehr Offenheit für die Inklusion.

Foto von Raul Krauthausen

Wie ist es in Deutschland

um die Inklusion bestellt? Diese Frage höre ich oft. Sie klingt ein bisschen wie: Wann sind wir damit fertig? Als sei Inklusion eine Checkliste, die irgendwann abgehakt ist. Dabei ist es mit der Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Menschen genau wie mit der Gleichstellung von Mann und Frau. Vor dem Gesetz sind beide gleich, in der Realität aber noch lange nicht. Hinzu kommt: Was wir heute als Inklusion definieren, wird wahrscheinlich in zehn oder 20 Jahren etwas ganz anderes sein. So ist künftig beispielsweise stärker zu berücksichtigen, dass sich verschiedene Diskriminierungsformen in einer Person überschneiden können: Es gibt Menschen mit Behinderungen und Migrationshintergrund oder mit anderer sexueller Orientierung. Behinderte Frauen haben ganz andere Anforderungen als behinderte Männer. Was braucht zum Beispiel die Frauenberatung, um inklusiv zu werden?

Ich finde es wichtig, dass wir zu der Erkenntnis kommen: Nicht über uns ohne uns. Das bedeutet, Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen, in denen es um strukturelle Entscheidungen und Veränderungen geht, einzubeziehen und um Rat zu fragen. Diese Beratung darf nicht ehrenamtlich sein im Sinne von: Wir haben auch einen Behinderten gefragt – den Nachbarn meiner Freundin. Sondern es sollten Experten sein, die sich vielleicht selber beruflich mit dem jeweiligen Thema auseinandersetzen. Zum Beispiel Architektinnen oder Sozialarbeiter, die eine Behinderung haben.

Mittlerweile sind behinderte Menschen im öffentlichen Raum sichtbarer geworden.

Wer als Mensch mit Behinderung einen Psychotherapeuten sucht, steht vor einem großen Problem. Ebenso schwer ist es für behinderte Frauen, eine gynäkologische Praxis zu finden, die barrierefrei ist und in der sie als Frau ernst genommen und nicht als medizinisches Objekt gesehen werden.

Ich glaube, dass wir mit theoretischen Forderungen und theoretischen Inklusionsmodellen nicht mehr weiterkommen. Wir brauchen mehr persönliche Begegnungen. Das fängt damit an, dass nicht mehr Bauherren oder Planer eine Behinderteneinrichtung besuchen, sondern dass der Mensch mit Behinderung zu ihnen kommt – und alle realisieren: Unser Verwaltungsgebäude ist nicht barrierefrei.

Erst wenn ein Problem immer wieder auftaucht, verändern sich Strukturen. Das ist ein langer gesellschaftlicher Prozess, bei dem der stete Tropfen den Stein höhlt. Dafür habe ich ein gutes Beispiel: In Berlin führten Umweltauflagen in den 90er Jahren dazu, dass die Verkehrsgesellschaft neue Busse anschaffen musste. Diese Fahrzeuge hatten alle eine Rampe. Plötzlich wollten jeden Tag irgendwo in Berlin rollstuhlfahrende Menschen Bus fahren. Und jeden Tag weigerten sich die Busfahrer aus unterschiedlichsten Gründen, die Rampen auszuklappen. Dann stellten sie fest, dass sie so den Groll der Fahrgäste auf sich zogen und es mehr Zeit kostete, sich zu verweigern, als der Bitte der Rollstuhlfahrer nachzukommen. Kein Gesetz, keine Sensibilisierungsmaßnahme hätte so viel Erfolg gehabt wie diese permanente Begegnung.

Ähnlich ist es bei der Inklusion in der Schule. Immer wieder heißt es, die Lehrkräfte hätten nicht die notwendige Ausbildung für behinderte Kinder. Eltern behinderter Kinder haben aber auch keine Ausbildung. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Lehrerinnen und Lehrer sich fragen: Was braucht das Kind und was kann ich tun, um ihm dabei zu helfen? Lehrer sind Moderatoren, nicht Fachkräfte für medizinische Fragen.

Mittlerweile sind behinderte Menschen im öffentlichen Raum sichtbarer geworden. Ihre mediale Darstellung ist über die des Sorgenkindes hinausgewachsen. Ich wohne in Berlin-Kreuzberg, dort wurde am Landwehrkanal eine Flaniermeile angelegt. Sie endet mit einer Treppe, weshalb 200 Meter vorher ein Schild warnt: Übergang nicht barrierefrei, bitte biegen Sie hier ab. Daneben hat jemand mit Graffiti geschrieben: Warum? Ich nehme an, das war ein nicht behinderter Mensch, der sich mit Rollstuhlfahrern solidarisieren wollte. Das ist eine neue Einstellung, die mich freut.

Raul Krauthausen, geboren 1980, ist Autor, Moderator, Medienmacher und Inklusionsaktivist.
Bildnachweis: Esra Rotthoff