Thema des Monats

Zerrieben zwischen Anspruch & Wirklichkeit

Sie wollen helfen und heilen. Zeitdruck und Personalknappheit hindern Pflegekräfte aber häufig daran, nach ihren Überzeugungen zu handeln. Wie daraus moralischer Stress entsteht, welche Folgen er haben kann und wie sich die Beschäftigten davor schützen lassen, beschreibt Silke Jäger.

Ein Krankenhaus irgendwo in Deutschland. Um sechs Uhr morgens übergibt der Nachtdienst eine Station an das Team der Frühschicht: „Ihr seid heute nur zu dritt. Zwei Kolleginnen haben sich krankgemeldet.“ Die neurologische Station ist mit 25 Patientinnen und Patienten voll belegt und muss an diesem Vormittag mit fast der Hälfte des geplanten Pflegepersonals auskommen. Es wird hektisch. Assistieren bei der Körperpflege, Essen austeilen und anreichen, beim Anziehen und beim Toilettengang helfen, Infusionen vorbereiten und Nachschub organisieren, die Visite begleiten, dokumentieren, für Angehörige ansprechbar sein und Untersuchungen und Entlassungen vorbereiten – alle rennen, niemand macht Pause.

Trotzdem wird vieles zu kurz kommen, vor allem auf der fachlichen und zwischenmenschlichen Ebene. Das behindert den Stationsablauf und erzeugt zusätzlichen Stress beim Personal. Es werden Fehler passieren, die Patienten gefährden.

Eine Frau mit Schlaganfall wird beim Versuch, allein auf die Toilette zu gehen, stürzen. Ein Patient mit einem psychotischen Durchgangssyndrom wird um sich schlagen und eine Pflegefachfrau im Gesicht verletzen, weil er von der Hektik auf der Station überfordert ist. Anstatt nach Hilfe zu rufen, drückt sie ihn aus Angst gegen die Wand. Die Angehörigen eines älteren Herrn werden entsetzt sein, wenn sie erfahren, dass er einen resistenten Krankenhauskeim in seiner Steißwunde hat und geben der Pflege die Schuld dafür.

Über die Belastungsgrenze gehen.

Am Ende einer Schicht wie in dieser fiktiven Szene sind die Pflegefachleute frustriert und kraftlos. Sie haben alles ihnen Mögliche getan, sind über ihre Belastungsgrenze gegangen. Sie haben versucht, so gut sie konnten, die Unzulänglichkeiten eines Systems auszugleichen, das an diesem Vormittag nicht funktionierte. Dahinter steht der Wunsch, ein Versprechen einzulösen, das das Gesundheitssystem gerne gibt: Bei uns steht der Patient im Mittelpunkt.

Wann Katheter gewechselt werden müssen oder wie oft jemand umgelagert werden muss, darf nicht vom Dienstplan abhängen.

Dieses Versprechen gefährdet jedoch zunehmend die Gesundheit derer, die sich um die Patientinnen und Patienten kümmern, weil die Arbeitsbedingungen nicht dazu passen. Allzu oft stehen in Wahrheit nicht die Patienten im Mittelpunkt, sondern die wirtschaftlichen Vorgaben der Krankenhausleitung. Und die folgt auch nur den gesundheitspolitischen Entscheidungen. Deshalb lassen sich die Anforderungen des medizinischen Alltags immer öfter nicht mehr mit ethischen und medizinischen Standards der Gesundheitsberufe vereinbaren.

Wertvorstellungen erzeugen Konflikte.

Moralischer Stress ist eine Art von Belastung, die noch vergleichsweise wenig bekannt ist. Dieser Stress tritt auf, wenn sich ein Mensch moralisch verantwortlich fühlt, dieser Verantwortung aber nicht nachkommen kann. Der Mensch erlebt eine ethische Konfliktsituation. Der ethische Kodex von Medizinprofis setzt sich aus persönlichen und beruflichen Werten zusammen. Viele Menschen, die einen Gesundheitsberuf ergreifen, fühlen sich ideellen Werten stark verpflichtet. Sie wollen zum Beispiel anderen in Not helfen, die Welt zu einem besseren Ort machen und das Richtige tun. Dazu kommt das Berufsethos, das zuerst im Hippokratischen Eid und seit 1948 in der Genfer Deklaration (für Ärztinnen) und in einem Positionspapier von 2018 des Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe festgehalten ist. Dabei sind folgende Prinzipien maßgeblich: die Autonomie der Patienten zu respektieren und ihnen eine informierte Entscheidung über medizinische Maßnahmen zu ermöglichen, keinen Schaden zuzufügen – weder durch falsche, zu viel oder zu wenig Behandlung, der Fürsorgepflicht nachzukommen sowie gerecht zu urteilen und zu handeln.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Krankenhauses oder einer Pflegeeinrichtung verkörpern die ethischen Standards ihrer Organisation. Sie tragen sie nach außen und sind Ansprechpartner, wenn Patienten mit der Organisation in Beziehung treten. Viele Organisationen formulieren ethische Standards jedoch nicht aus. Ob der eigene ethische Kodex zu der der Organisation passt, bemerken die Beschäftigten oft erst in schwierigen Situationen.

Verletzung der Persönlichkeit.

Der in Boston (USA) lehrende Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften Brett Litz und sein Team beschrieben 2009, wie moralischer Stress moralische Verletzungen nach sich zieht: Andauernder psychologischer und sozialer Druck, der dazu führt, dass wiederholt gegen moralische Prinzipien verstoßen wird, kann langanhaltende Schäden verursachen. Eine moralische Verletzung ist eine unsichtbare Wunde. Im englischen Sprachraum nennt man das auch „character wound“: eine Verletzung der Persönlichkeit. „Viele Bedürfnisse, die ein Mensch hat, lassen sich aufschieben. Das Bedürfnis nach Gesellschaft zum Beispiel, selbst das nach Nahrung. Aber das Bedürfnis nach Unversehrtheit nicht“, sagt Ludwig Thiry. Er ist Krankenpfleger und leitet empCARE-Trainings. Unter der Überschrift „Pflege für Pflegende“ bietet empCARE ein empathiebasiertes Entlastungskonzept für Pflegefachpersonen an. „Das Bedürfnis, unversehrt sein zu wollen, bezieht sich auf das Körperliche, das Seelische und die moralische Verfasstheit, also auf die ethischen Ansprüche. Moralische Integrität bildet sich aus den Werten, den Haltungen und den Erfahrungen, die jemand macht.“

Handeln gegen den ethischen Kompass.

Thiry ist überzeugt, dass Personal nicht langfristig zu halten ist, wenn der ethische Kodex der Organisation nicht mit dem persönlichen Kodex der Mitarbeiter zusammenpasst. Die ethischen Dimensionen medizinischen Handelns kommen unter dem Druck der Pandemie und der Kosteneffizienz immer öfter zu kurz. „Unter den Bedingungen der Pandemie wird als Ursache von moralischem Stress vor allem der Mangel an Personalressourcen betrachtet. Das ist natürlich eine Quelle, aber es ist nicht die einzige“, betont Krankenpfleger Thiry. Er spürt den Frust der Pflegefachleute in seinen Seminaren unmittelbar.
 
Ein Thema treibt die Beschäftigten besonders stark um: „Gerade beruflich Pflegende sind oft nicht in therapeutische Entscheidungen einbezogen. Sogar pflegerische Entscheidungen werden schon allein aus rechtlichen Gründen von anderen Berufsgruppen gefällt, in der Regel von Ärztinnen und Ärzten“, so Thiry. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn die Entscheidungen aus pflegerischer Perspektive nicht fachlich korrekt sind. Wenn Pflegende mit Entscheidungen nicht einverstanden sind, sie diese aber trotzdem umsetzen müssen, handeln sie nicht selten auch gegen ihren ethischen Kompass. Denn wer das Richtige tun will, ist an fachliche Standards gebunden. Wann Katheter gewechselt werden müssen oder wie oft jemand umgelagert werden muss, um einen Dekubitus zu vermeiden, darf nicht vom Dienstplan abhängen.

Mit der Initiative PFLEGE.KRÄFTE.STÄRKEN. unterstützt die AOK ambulante Dienste, stationäre Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser dabei, individuelle Lösungen für gesunde Arbeitsgestaltung zu finden. Dafür hält die AOK Angebote zur Betrieblichen Gesundheitsförderung bereit.

Vom Programm Care4Care profitieren Pflege- und Führungskräfte sowie Arbeitgeber gleichermaßen. In Trainings und Workshops lernen sie Ansätze kennen, um Arbeitsstrukturen gesundheitsförderlich weiterzuentwickeln. Das Gesundheitsprogramm kombiniert digitale Angebote mit persönlicher Unterstützung. Die Vor-Ort-Bausteine von Care4Care umfassen Workshops für Führungskräfte und Teams sowie Coachings zum Health-oriented-Leadership-Prozess. Ziel ist es, gesundes Führungsverhalten und Gesundheit im Team zu stärken und zu fördern. Care4Care Digital umfasst mehr als zehn Trainings zur gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung und zur Stärkung der eigenen Gesundheitskompetenz, darunter das Training „Resist – Resilienz stärken“.

Die Pflege-Mediathek ist eine digitale Lernplattform für stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen sowie Krankenhäuser. Sie bietet vorbereitete Mitarbeiterschulungen und E-Learnings zu Pflegestandards, Bewohnerprävention und BGF in der Pflege. Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser können die Pflege-Mediathek außerdem dazu verwenden, Fortbildungen, auch eigene, zu planen, zu organisieren und zu verwalten.

Mit dem Workshop „Haus der wertschätzenden Pflege“ hilft die AOK Pflegeeinrichtungen dabei, gesunde Rahmenbedingungen für Beschäftigte zu schaffen. Der Workshop richtet sich an Führungskräfte, an Einrichtungs-, Wohnbereichs- und Pflegedienstleitungen, an Mitarbeitervertretungen sowie die Verwaltung. Die Teilnehmer erfahren, wie sich die Gesundheit der Beschäftigten konkret verbessern lässt. Im zweiten Schritt erfassen die Teilnehmer den Ist-Zustand in ihrer Einrichtung. Zusammen leiten sie daraus Ideen ab, wie sich die Situation in der eigenen Einrichtung verbessern lässt, formulieren gemeinsame Ziele und priorisieren Handlungsfelder.

Das Projekt QualiPEP hat zum Ziel, die Qualität von Gesundheitsförderung in der Pflege zu verbessern. Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums hat die AOK Checklisten entwickelt, die eine Bewertung bestehender Maßnahmen sowie die Planung und Durchführung neuer Maßnahmen ermöglichen.

Weitere Informationen: AOK-Bundesverband – BGF in der Pflege

Die in Charlottesville (USA) lehrende Pflegewissenschaftlerin Elizabeth Epstein und ihr Team stellten 2015 fünf Komponenten vor, die zu moralischem Stress beitragen: Komplizenschaft in Entscheidungssituationen, die zu Werteverletzungen führen, zu wenig Mitspracherecht in diesen Entscheidungssituationen, Verletzung von beruflichen Werten, wiederkehrende Erfahrungen von ethischen Dilemma-Situationen, Ereignisse, die drei Ebenen betreffen – Patient, Station und System.

Kälte im Umgang mit anderen Menschen.

Um trotz der Widersprüche, die sich aus den unterschiedlichen Anforderungen ergeben, handlungsfähig zu bleiben, entwickeln viele Pflegende eine Art Kälte im Umgang mit anderen Menschen. Das ist das Sichtbare eines inneren Prozesses, den die Pflegewissenschaftlerin Karin Kersting „Coolout“ nennt. Anstatt zu rebellieren und sich für eine Verbesserung der Umstände einzusetzen, spiegeln sie die Kälte, die von den Strukturen des Systems ausgeht. Sie geben es auf, sich am Guten, Richtigen und Wünschenswerten zu orientieren und fügen sich der Realität eines Systems, das an all diesen Werten kein Interesse zu haben scheint. Es findet eine moralische Desensibilisierung statt.

Karin Kersting hat 2011 Auszubildende in der Krankenpflege zu alltäglichen Konfliktsituationen befragt und dabei Folgendes festgestellt: „Reagieren die Menschen aufgrund des Handlungsdrucks im Alltag und der permanenten Konfrontation mit den Strukturen mit einer Tendenz zur Gleichgültigkeit, dann machen sie sich selber kalt. Sie lernen es, die strukturellen Bedingungen als unveränderlich hinzunehmen und stabilisieren damit das, wovor sie sich zu schützen suchen.“ Coolout ist der Versuch, die Härten des Berufs besser auszuhalten.

Gefühle mit weitreichenden Folgen.

Wenn Pflegende zu falschem Handeln gezwungen sind, empfinden sie das oft als Verrat: an dem, was sie gelernt haben, an den ethischen Prinzipien des Berufs und an den eigenen Ansprüchen. Wenn dann auch noch der Eindruck entsteht, der Arbeitgeber ordnet im Zweifel die Bedürfnisse der Patienten und des Personals wirtschaftlichen Vorteilen unter, können sehr starke Gefühle entstehen. Wenn sich die betroffene Person dabei eher als Opfer wahrnimmt, überwiegen negative Gefühle von Ärger und Wut. Wenn sie hingegen glaubt, sich getäuscht zu haben, kommt es eher zu Scham und Schuld. Die Folgen moralischen Stresses können sehr unterschiedlich sein: von Depressionen, Burnout und posttraumatischen Belastungsstörungen, über Coolout bis zum Aufgeben des Berufs und Suizidalität.
 
Der Berufsverband der Pflegeberufe warnt immer wieder vor einem Massenausstieg von Pflegefachpersonen aus dem Beruf. Zwischen Anfang April und Juli 2020 verließen circa 9.000 Pflegende ihren Beruf. Laut einer Umfrage des Berufsverbands vom Dezember 2020 denken 30 Prozent der Beschäftigten darüber nach, aus dem Pflegeberuf auszusteigen. Da außerdem circa 40 Prozent innerhalb der nächsten 15 Jahre in Rente gehen, wird moralischer Stress ein zunehmend relevanter Faktor beim Pflegepersonalmangel sein.

Missstände betreffen das Team.

Moralischer Stress ist nicht in erster Linie ein individuelles Problem. Betroffene machen einen Missstand erlebbar, der das gesamte Team beeinträchtigt. Wenn Werte, auf die sich ein Kollektiv geeinigt hat (fachliche Standards, ethischer Kompass), nicht gelebt werden können, ist das nicht dadurch wieder gutzumachen, dass sich eine einzelne Mitarbeiterin therapieren lässt. Trotzdem ist eine möglichst frühzeitige Behandlung wichtig, um die Betroffenen zu entlasten und Symptome zu lindern.

Grafik: Balkendiagramm mit Gesundheitsangeboten, an denen Pflegepersonen interessiert sind

Um die Belastungen zu reduzieren und die Arbeitsbedingungen gesünder zu gestalten, favorisieren die Beschäftigten in der Pflege Angebote zur Stressbewältigung (56 Prozent) und Entspannung (51 Prozent). Das zeigte eine Auswertung von Befragungen im Rahmen des AOK-Services „Gesundes Unternehmen“ in den Jahren 2011 bis 2019. Insgesamt 11.149 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen gaben dazu Auskunft.

Quelle: AOK-Bundesverband, Report zur Betrieblichen Gesundheitsförderung in der Pflege 2021

Neil Greenberg, Psychiater und Professor für Psychische Gesundheit des Militärs am King’s College in London, gehört zu den führenden Forschern zu moralischen Verletzungen. Er sagt: „Menschen sprechen nicht gern über Gefühle wie Schuld, Scham, Ärger und Ekel. Es ist aber nicht nur deshalb schwer, diese Gefühle zu verarbeiten. Wenn man über Situationen spricht, die diese Gefühle auslösen, ist das eventuell auch existenzgefährdend.“
 
Wenn die Pflegefachfrau aus dem Beispiel vom Anfang des Textes über den Fehler berichten würde, einen Patienten an die Wand gedrückt zu haben, kann das ernste Konsequenzen für sie haben.

Offen über Fehler sprechen.

Besonders in Teams, in denen keine gute Fehlerkultur herrscht, sind Menschen mit solchen Erlebnissen allein. Das erhöht aber die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich Fehler wiederholen. In Teams, in denen über Fehler offen gesprochen werden kann, reduziert sich die Wiederholungsgefahr. Wer über ethische Dilemmata reden möchte, muss sich auch mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen zeigen können. Dafür braucht es eine Teamkultur, die mit der offengelegten Verletzlichkeit wertschätzend und konstruktiv umgehen kann.
 
Deshalb findet moralischer Stress nur scheinbar auf der individuellen Ebene statt. Er ist vor allem ein Problem auf der Ebene der Teamleitung. Ganz praktisch heißt das: Wenn sich die Pflegedienstleitung nicht der Dynamik bewusst ist, wird es immer wieder zu Coolouts, Depressionen, Burnouts und Kündigungen aufgrund von moralischem Stress kommen. Die Leitungsebene ist gefordert, die Dynamik gemeinsam mit dem Team zu reflektieren und eine gute Fehlerkultur zu schaffen.
 
Doch das ist leichter gesagt als getan. Zwar können auch Krankenhäuser ihren Teams Supervisionen oder Kriseninterventionsprogramme wie das Konzept „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen SbE“ anbieten. Wie sehr solche Strukturen fehlen, hat die Corona-Pandemie gezeigt. So gibt es einem Bericht der „Hessenschau“ vom 14. Januar 2022 zufolge derzeit nur an sieben Krankenhäusern SbE-Teams.

Absturz aus dem Heldenstatus.

Neil Greenberg erforscht moralischen Stress im Kontext von Kriegseinsätzen und berät seit dem Ausbruch der Pandemie auch Krankenhäuser des Nationalen Gesundheitsservices (NHS) in Großbritannien. Er arbeitet mit medizinischen Teams zusammen, die Covid-Patienten versorgen und stellt fest: „Die Pandemie war für viele medizinischen Teams schlimmer als es ein Kriegseinsatz für Soldaten ist.“

Gesundheitsprofis bekamen einen Heldenstatus, als sie sich ohne gute Schutzkleidung um Covid-Patienten kümmerten und riskierten, sich dabei selbst anzustecken. Was als Anerkennung gedacht war, verstärkte bei den Teams jedoch den Eindruck verraten zu sein. Greenberg sagt: „Wer als Held bezeichnet wird, kann das entweder nicht für sich annehmen, was es sehr schwierig macht. Oder, wenn er es annehmen kann, geht es von da ab immer nur bergab mit dem Ansehen.“ Genau das lässt sich derzeit beobachten. In der öffentlichen Debatte sind aus den einstigen Heldinnen und Helden die Leute geworden, die sich nicht impfen lassen wollen und deshalb verpflichtet werden mussten.

Mehr Unterstützung in der Pandemie.

Sowohl medizinische als auch militärische Teams haben es mit schwierigen Gegnern zu tun, die sich nicht an die Regeln halten. Das ist in der Pandemie das Virus, kann aber auch jede Krankheit sein, die nicht nach Lehrbuch verläuft und bei der Komplikationen auftreten. Bei Militäreinsätzen gibt es entlastende Leitsätze, zum Beispiel: „Wir machen es so gut wie es geht und das ist okay.“ Das, so Greenberg, sei in der Medizin anders. Dort versuche man in jeder Situation den medizinischen Standard zu erhalten. Wenn das nicht klappe, fühlten sich einzelne dafür verantwortlich.

Teams brauchen eine Kultur, in der ethische Werte definiert und hochgehalten werden.

Greenberg sagt: „Tod und Trauma und ethisch herausfordernde Situationen sind nichts Neues, aber der Kontext und dass so viel in kurzer Zeit passierte. Und noch dazu die gesellschaftlichen Veränderungen, die Kontakteinschränkungen, die verhinderten, dass man Anspannungen auf die übliche Weise abbauen konnte.“ Zwar erkannten Verbände und Arbeitgeber schnell, dass das Personal in dieser Lage mehr Unterstützung braucht, aber die konkreten Angebote richteten sich hauptsächlich an Einzelne. Wer sich überlastet fühlte, konnte sich zum Beispiel an eine Hotline wenden. Die Dynamik der moralischen Verletzungen können solche Angebote aber nicht durchbrechen.

Moralischen Stress erkennen.

Die größte Herausforderung ist, moralischen Stress zu erkennen. Das Konzept ist bei Psychiatern und Psychotherapeuten außerhalb des militärischen Kontextes noch recht unbekannt. Der erste Schritt, moralischen Stress abzubauen liegt darin, ihn wahrzunehmen und zu akzeptieren. Das konnte zum Beispiel durch das Acceptance and Commitment-Verfahren (ACT) für Symptome und Belastungsempfinden erreicht werden. Dieses Konzept wurde in den 1990er-Jahren vom amerikanischen Psychiater Steven C. Hayes entwickelt. ACT zielt darauf ab, Vermeidungsverhalten in Bezug auf unangenehme Erlebnisse abzubauen (Acceptance) und wertebezogenes, engagiertes Handeln (Commitment) aufzubauen.

Dafür kombiniert das Verfahren klassische verhaltenstherapeutische Techniken mit achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Strategien. Von moralischem Stress Betroffene werden angeleitet, eigene negative Gedanken zu akzeptieren und sich anschließend von den belastenden Gedanken zu distanzieren. Fragen, wie zum Beispiel: „Was ist mir wichtig? Was ist mir wertvoll?“, helfen, die dem eigenen Handeln zugrundeliegenden Werte zu klären und daraus zielgerichtete, konkrete Handlungsabsichten abzuleiten. Wichtig dabei ist, dass die Betroffenen sich nicht länger mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen isolieren, sondern von der Gruppe aufgefangen werden. Das Empfinden des Einzelnen muss zu einem gemeinschaftlichen Empfinden werden, um gemeinsam nach einer Lösung suchen zu können.

Die ganze Station einbeziehen.

Kliniken können sich Unterstützung für die Prävention von moralischem Stress holen. Solche Projekte können auch im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) durch die Krankenkassen gefördert werden. Die AOK beispielsweise bietet selbst Programme an, die zum Ziel haben, die Resilienz von Pflegefachleuten zu stärken (siehe Kasten „AOK-Initiative: Pflegekräfte stärken“). Darin werden auch die Werte und Erwartungen in der Pflege und der Umgang damit im Arbeitsalltag thematisiert.

Ludwig Thiry betont, wie wichtig es ist, das ganze Team zu schulen. „Wir laden die gesamte Station ein. Einige Personen, die nur Nachtdienste machen oder kurz vor der Rente sind, kommen dann vielleicht nicht, aber wir erreichen circa 80 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Das Konzept für das empCARE-Training wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und wissenschaftlich evaluiert. Dabei zeigte sich, dass die positiven Effekte des Trainings mindestens zwölf Monate anhalten.

Über Dilemmata sprechen.

Wer nach Seminaren speziell zur Prävention von moralischem Stress sucht, wird enttäuscht. In Kommunikationstrainings oder Kursen zur Stressbewältigung kann es zwar auch einmal um ethische Dilemmata gehen. Doch Programme gegen moralischen Stress, die auch so heißen, gibt es derzeit nicht. Das liegt auch daran, dass kaum jemand etwas mit dem Begriff anfangen kann.

• Karin Kersting: Coolout in der Pflege. Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung. Mabuse-Verlag, 2019. Präsentation zum Download
• Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe: Ethische Konflikte. Lösungsvorschläge aus der Praxis für die Praxis. Download
• Annette Riedel, Sonja Lehmeyer: Ethische Herausforderungen für die Pflege in der Covid-19-Pandemie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung, 2021.
• AOK Bundesverband: PFLEGE.KRÄFTE.STÄRKEN
• Moralische Verletzungen. Folge 39 des Wissenschaftspodcasts Synapsen von NDR Info
• empcare.de: Website des Trainings „Pflege für Pflegende“

Ludwig Thiry hält es für entscheidend, dass die mittlere Führungsebene das Problem erkennt und angeht. Durch die Pandemie hat moralischer Stress massiv zugenommen. Betroffene müssen dringender denn je ermutigt werden, sich damit zu beschäftigen. Voraussetzung dafür ist, über moralische Dilemma-Situationen sprechen zu können. „Teams brauchen eine Kultur, in der ethische Werte definiert und hochgehalten werden“, sagt Thiry. „Es ist auch deshalb ein so schwieriges Thema, weil es ein professionelles Berufsverständnis voraussetzt.“ Dieses professionelle Verständnis wird vor allem in den Pflegeberufen zunehmend durch ökonomische Überlegungen der Arbeitgeber infrage gestellt. Auch deshalb geht moralischer Stress alle an, die im Krankenhaus oder der Pflegeeinrichtung arbeiten – und nicht nur diejenigen, die ihm unmittelbar ausgeliefert sind.

Literatur bei der Verfasserin

Silke Jäger ist freie Medizinjournalistin in Marburg.
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