Welche digitalen Medien sind für die Selbsthilfe nützlich und welche sind überflüssig oder gar schädlich?
Selbsthilfe

Aus dem Stuhlkreis in den Chatroom

Einfache Vernetzung, schnelle Kommunikation – die Digitalisierung erleichtert die Arbeit der Selbsthilfe. Doch sie kann den Austausch in der realen Welt nicht ersetzen, betonten Experten auf einer Fachtagung. Von Otmar Müller

Die Digitalisierung

sei in der Selbsthilfe längst angekommen, sagte Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Ob zur Vernetzung über große Entfernungen hinweg, zum Austausch in Chats und Foren oder zur Verbesserung des eigenen Krankheitsmanagements – es sei richtig und wichtig, dass die Selbsthilfe die Chancen der Digitalisierung nutze, so Litsch Ende November in Berlin auf der diesjährigen Selbsthilfe-Fachtagung des AOK-Bundesverbandes.

Wie vielfältig die digitale Technik den Selbsthilfealltag durchdringt, machte Gerlinde Bendzuck, Vorsitzende der Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin, deutlich. Ob die benutzerfreundliche und datensichere App „Rheuma-Auszeit“ der Rheumaliga, das Projekt openAPS, bei dem Patienten mithilfe digitaler Sensoren selbstgebaute künstliche Bauchspeicheldrüsen testen oder die Entwicklung von Hightech-Exoskeletten für Menschen mit Querschnittslähmung oder Muskelerkrankungen – die Fortschritte in der digitalen Gesundheitsversorgung seien bahnbrechend.

Doch die Digitalisierung stellt die Selbsthilfe auch vor neue Herausforderungen, sagte Claudia Schick, Selbsthilfe-Referentin beim AOK-Bundesverband. Selbsthilfespezifisches Wissen, das Menschen früher nur im direkten Austausch in Selbsthilfegruppen miteinander teilen konnten, sei heute für jeden überall auf der Welt und jederzeit digital zugänglich. Dies sei einer der Gründe dafür, dass sich immer weniger Menschen in Selbsthilfegruppen engagieren – mit der Folge, dass die Gruppen vielerorts schrumpften oder ganz aufgäben. „Die Digitalisierung darf die Selbsthilfe nicht in ihren Grundwerten und in ihrem Wesen aushöhlen“, betonte Schick.

Guter Einstieg für junge Menschen.

Professor Dr. Frank Schulz-Nieswandt brachte die Ambivalenz der Digitalisierung auf den Punkt: „Man kann die Vorteile der Digitalisierung nicht nutzen, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.“ Der Sozialwissenschaftler zeigte sich aber optimistisch: Einen vollständigen Wechsel von der regionalen Gruppenarbeit hin zu ausschließlich digitalen Selbsthilfegruppen hält er für unwahrscheinlich. „Es werden sich Parallelwelten herausbilden, die Angebote der Selbsthilfe werden sich weiter ausdifferenzieren und gegenseitig ergänzen.“ Nicht zuletzt ermögliche die Digitalisierung gerade jungen Menschen einen guten Einstieg in die Welt der Selbsthilfe, konstatierte Schulz-Nieswandt.

Auch Dr. Jörg Richstein, Vorsitzender des Selbsthilfeverbands Achse (Allianz chronischer seltener Erkrankungen) bestritt nicht die Vorteile der Digitalisierung für die Selbsthilfe. Er kritisierte jedoch, wie teilweise unbekümmert die Selbsthilfe soziale Netzwerke oder unverschlüsselte Messengerdienste nutze. Es sei unverständlich, wieso die Gesellschaft es toleriere, dass „Datenkraken“ wie WhatsApp, Facebook, Instagram oder Twitter in der Hand einiger weniger Digitalkonzerne seien. Eine wichtige Herausforderung für die Selbsthilfe sei es daher, zu analysieren, welche digitalen Medien für die Arbeit der Gruppen und Organisationen nützlich und effizient, welche überflüssig und welche sogar schädlich seien.

Pilotprojekt zur digitalen Patientenakte.

Welche Rolle die Digitalisierung über die Selbsthilfe hinaus im Gesundheitssystem spielen könnte, machte Michael Noll von der AOK Baden-Württemberg deutlich. „Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz hat die Politik allen Kassen den klaren Auftrag erteilt, ihren Versicherten den Zugang zu einer digitalen Patientenakte zu ermöglichen.“ Die AOK fordert dies seit längerem und testet zurzeit das von ihr konzipierte Digitale Gesundheitsnetzwerk (DiGeN) in zwei Pilotprojekten. Mithilfe des DiGeN lassen sich Befunde, Diagnosen und Therapien inklusive Medikation in der digitalen Patientenakte speichern, zu der jeder Versicherte Zugang hat und auch seinen behandelnden Ärzten Zugang ermöglichen kann. Ziel sei, so Noll, eine bessere medizinische Versorgung.

Weitere Informationen zur Selbsthilfe-Fachtagung 2018

Otmar Müller ist freier Journalist in Köln mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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