Arzthaftung

Kein Schadensersatz für Lebenserhalt

Ärzte haften nicht, wenn sie einen Patienten durch künstliche Ernährung länger als medizinisch sinnvoll am Leben erhalten und damit sein Leiden verlängern. Ungeachtet einer möglichen Pflichtverletzung des Arztes verbiete es sich generell, ein Weiterleben als Schaden anzusehen. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens

Urteil vom 2. April 2019
– VI ZR 13/18 –

Bundesgerichtshof

Es ist eine Horrorvision

für viele Menschen: nicht mehr ansprechbar zu sein, sich nicht mehr wehren zu können und auf unabsehbare Zeit künstlich über Schläuche ernährt zu werden. Deshalb ist es wichtig, in einer Patientenverfügung präzise festzulegen, in welchen Situationen wie behandelt werden soll und wann keine Behandlung mehr gewünscht ist. Dies zeigt sich an einem Fall, den der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden hatte. Geklagt hatte der Sohn eines 1929 geborenen Mannes, der an Demenz litt, seit 2006 in einem Pflegeheim lebte und einen Betreuer hatte.

Leiden sinnlos verlängert?

Im September 2006 bekam der Patient eine Magensonde gelegt, um eine Mangelernährung und Austrocknung des Körpers zu verhindern. Eine Patientenverfügung hatte er nicht. Auch konnte er nicht danach gefragt werden, ob er lebenserhaltende Maßnahmen will oder nicht. Seit 2008 war die Kommunikation mit ihm nicht mehr möglich. Er war teilweise gelähmt und bekam starke Schmerzmittel.

Von Januar 2010 bis Oktober 2011 hatte der Patient regelmäßig Fieber, Atembeschwerden und Druckgeschwüre. Viermal bekam er eine Lungenentzündung. Im Juni 2011 befand er sich wegen einer Gallenblasenentzündung im Krankenhaus. Am 8. Oktober 2011 wurde er wegen einer Lungenentzündung erneut stationär aufgenommen. Elf Tage später starb er.

Die ärztlichen Pflichten dienen nicht dazu, Erben das Vermögen eines Patienten zu erhalten, so die obersten Zivilrichter.

Der Sohn vertrat die Ansicht, dass die künstliche Ernährung spätestens seit Anfang 2010 das krankheitsbedingte Leiden seines Vaters nur noch sinnlos verlängert habe. Der beklagte Hausarzt hätte die lebenserhaltenden Maßnahmen beenden und das Sterben des Vaters unter palliativmedizinischer Betreuung zulassen müssen. Der Hausarzt habe den Betreuer nicht hinreichend darüber aufgeklärt, dass für die künstliche Ernährung keine medizinische Indikation mehr bestand. Körper und Persönlichkeitsrecht des Vaters seien verletzt worden.

Der Sohn verlangte als Erbe Schmerzensgeld sowie Ersatz für die Behandlungs- und Pflegeaufwendungen in Höhe von insgesamt mehr als 50.000 Euro.

Während das Landgericht seine Klage abwies, sprach ihm das Oberlandesgericht Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 Euro zu. Der Arzt hätte im Rahmen seiner Aufklärungspflicht mit dem Betreuer die Frage eingehend erörtern müssen, ob die Sondenernährung fortgesetzt oder beendet werden soll. Dies habe er pflichtwidrig nicht getan.

Die aus dieser Pflichtverletzung resultierende Lebens- und gleichzeitig Leidensverlängerung des Patienten stelle einen ersatzfähigen Schaden dar. Gegen diese Entscheidung legte der Hausarzt Revision beim BGH ein – mit Erfolg. Die obersten Zivilrichter bestätigten das erstinstanzliche Urteil. Der Sohn habe keinen Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz.

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Der für Arzthaftungssachen zuständige VI. Zivilsenat begründete seine Entscheidung mit grundsätzlichen Erwägungen zum Wert und zum Schutz des menschlichen Lebens. Dabei ließ er offen, ob der behandelnde Arzt – wie von beiden Vorinstanzen angenommen – seine ärztlichen Pflichten durch jahrelange, lebensverlängernde Maßnahmen verletzt hat. Ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld komme schon deshalb nicht in Betracht, weil das Weiterleben kein immaterieller Schaden sei, so der BGH.

Wert des Lebens betont.

Bei der Bewertung des immateriellen Schadens sei der durch die künstliche Ernährung erreichte Zustand des Weiterlebens – wenn auch möglicherweise unter erheblichem Leiden – dem Zustand gegenüberzustellen, der bei einem Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Als höchstrangiges Rechtsgut habe das menschliche Leben immer einen höheren Wert als der Tod.

Aus diesem Grund verbiete es die verfassungsrechtliche Wertung des Artikels 1 Absatz 2 und des Artikels 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes, ein Weiterleben als Schaden anzusehen, auch wenn es mit Leiden verbunden sei.

Nicht von Dritten zu entscheiden.

Der BGH stellte klar, dass der Patient rechtlich autonom sein Leben als unwert ansehen und verlangen dürfe, dass lebenserhaltende Maßnahmen gegen seinen Willen zu unterbleiben hätten. Habe sich aber – wie im vorliegenden Fall – der Patient selbst nicht geäußert und sei wegen seiner körperlichen und geistigen Verfassung nicht mehr in der Lage, seinen Willen kundzutun, verbiete es die Verfassung, dass dritte Personen und auch die Rechtsprechung darüber entscheiden, ob der Tod die bessere Alternative zum Leben sei oder gewesen wäre.

Das Weiterleben könne auch dann nicht als Schaden gewertet werden, wenn eine Weiterbehandlung entgegen einer ausdrücklichen Patientenverfügung erfolgt. Eine Patientenverfügung, die eine Weiterbehandlung in bestimmten Situationen untersagt, entfalte lediglich Abwehransprüche gegen lebensverlängernde Maßnahmen. Diese seien gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen.

Auch habe der Sohn keinen Anspruch auf Ersatz der durch das Weiterleben des Patienten bedingten Aufwendungen für Pflege und Behandlung. Behandlungs- und Aufklärungspflichten hätten nicht den rechtlichen Zweck, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben eines Patienten verbunden sind, zu verhindern. Schon gar nicht dienten diese Pflichten dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.

Ob nun der Sohn gegen das BGH-Urteil Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einlegt, bleibt abzuwarten.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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