Interview

„Durch Begegnung etwas bewegen“

Inklusion ist die Annahme und Bewältigung von menschlicher Vielfalt, sagt Raúl Krauthausen. Der Behindertenaktivist hält Sichtbarkeit für eine wesentliche Voraussetzung, um die Einstellung in der Gesellschaft zu verändern.

Herr Krauthausen, in Ihrem neu erschienenen Buch geht es unter anderem um Ableismus. Was ist das?

Raúl Krauthausen: Ableismus wird in Deutschland häufig mit Behindertenfeindlichkeit gleichgesetzt. Aber das greift für mich zu kurz. Denn Behindertenfeindlichkeit ist ein aktiver Akt. Ableismus hingegen beinhaltet auch strukturelle Prozesse. Es ist zum Beispiel ableistisch, dass sich Rollstuhlfahrer bei der Deutschen Bahn über eine Hotline anmelden müssen, um überhaupt mitgenommen zu werden. Ableismus bedeutet auch, dass behinderte Menschen oft mit einer Personengruppe gleichgesetzt werden, die Geld kostet. Das würde die Gesellschaft bei anderen Gruppen nie machen.

Porträt von Raul Krauthausen, Autor, Moderator, Medienmacher und Inklusionsaktivist

Zur Person

Raúl Aguayo Krauthausen ist Autor, Moderator, Medienmacher und Inklusionsaktivist. Der Kommunikationswirt arbeitet seit knapp 20 Jahren in der Internet- und Medienwelt. 2004 gründete Krauthausen das Netzwerk „Sozialhelden“, das sich für mehr Barrierefreiheit und Teilhabe einsetzt. Sein Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“ ist Mitte März 2023 erschienen.

 Weitere Informationen über die Sozialhelden

Was kann jeder Einzelne gegen Ableismus tun?

Krauthausen: Wichtig ist, dass sich jeder Mensch erst einmal darüber klar wird, dass er ableistische Verhaltensweisen hat. Das haben wir gesellschaftlich gelernt – so wie jeder von uns auch mal rassistisch oder sexistisch ist. Es ist wichtig, das zu akzeptieren, auszuhalten und dann zu hinterfragen. Jeder kann mitdenken, Fragen stellen und dadurch sensibilisieren. Das können ganz einfache Dinge sein, beispielsweise, indem eine Mutter im Kindergarten fragt, ob ihr Kind auch mit behinderten Kindern spielen kann. Ein anderes Beispiel: Barrierefreiheit muss in der Bauplanung genauso normal mitgedacht werden wie Brandschutz.

Was ist Inklusion für Sie?

Krauthausen: Inklusion ist die Annahme und Bewältigung von menschlicher Vielfalt. Hierbei müssen wir alle lernen, dass es Menschen mit Behinderungen gibt und dass wir nicht das Recht haben, sie auszuschließen. Umgekehrt gilt: Nur, weil Menschen behindert sind, haben sie nicht automatisch recht. Aber wir müssen anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen eher diskriminiert werden als Nichtbehinderte.

Barrierefreiheit muss in der Bauplanung genauso mitgedacht werden wie Brandschutz.

Worin besteht der Unterschied zwischen Integration und Inklusion?

Krauthausen: Integration ist der Schritt vor der Inklusion. Die Mehrheitsgesellschaft, in diesem Fall Nichtbehinderte, macht ein bisschen Platz für die Minderheit – hier Behinderte – und erwartet dafür Dankbarkeit. Das Machtgefälle bleibt also bestehen. Bei der Inklusion gibt es keine Mehrheit, sondern nur eine Minderheit. Oder anders gesagt: Wir sind alle die Mehrheit. In einer solchen inklusiven Gesellschaft sollten wir alle die gleichen Möglichkeiten bekommen, um uns zu verwirklichen.

Wie kommt es, dass andere Länder wie die USA in Bezug auf Inklusion viel weiter sind als Deutschland?

Krauthausen: Dort ist das Recht auf Antidiskriminierung viel stärker. In den USA gibt es seit den Neunzigern die Möglichkeit, Unternehmen zu verklagen, die Menschen mit Behinderung diskriminieren. Das heißt, ich kann ein Restaurant auf Millionen verklagen, wenn es beispielsweise keine Speisekarte in Blindenschrift zur Verfügung stellt. Das führt dann zu Innovationen. Diese Rechte gibt es in Deutschland nicht. Die Einstellung der Gesellschaft ändert sich nur mit Sichtbarkeit: Wir müssen erst Barrierefreiheit herstellen, dann ändert sich auch die Haltung der Menschen dazu. Durch Begegnung – in diesem Fall zwischen Behinderten und Nichtbehinderten – lässt sich etwas bewegen, aber nicht durch bloße Werbekampagnen im Fernsehen.

Tina Stähler führte das Interview. Sie ist Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: Anna Spindelndreier