Trotz Abschied in den Ruhestand als WIdO-Geschäftsführer bleibt Prof. Dr. Klaus Jacobs der Lehre und Forschung erhalten.
Symposium

Solidarprinzip steht hoch im Kurs

Hierzulande gibt es eine große Mehrheit für eine gemeinsame Kranken- und Pflegeversicherung. Bei einem Symposium in Berlin ging es um die Frage, warum die Politik die Diskussion über das duale Versicherungssystem trotzdem weiter ausklammert. Von Thomas Rottschäfer

Der Begriff Bürgerversicherung

taucht im Regierungsvertrag der Ampel nicht auf. Die FDP machte Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2021 auch davon abhängig, dass Diskussionen über ein Ende der Trennung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) in der laufenden Legislaturperiode tabu sind. Für die Menschen in Deutschland ist das Thema jedoch alles andere als ein Tabu. 76 Prozent der gesetzlich Versicherten wünschen sich eine Erweiterung der Solidargemeinschaft um Beamte, Selbstständige oder besserverdienende Arbeitnehmer. Und sogar 48 Prozent der PKV-Mitglieder befürworten die Abkehr vom dualen Versicherungssystem, das es in dieser Form nur noch in Deutschland gibt. Das ergab eine repräsentative Forsa-Befragung im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO; siehe Kasten „Lese- und Webtipps“).

Seine Stimme hat Gewicht – in Forschung und Lehre ebenso wie in der Politik: Der Volkswirt Professor Dr. Klaus Jacobs ist ein Verfechter der solidarischen Beitragsfinanzierung, bedarfsgerechten Steuerung der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung, des fairen Kassenwettbewerbs und der Bürgerversicherung. Gerechtigkeit und Solidarität sind seine Maxime und ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen. Dafür tritt der 66-Jährige in zahlreichen Veröffentlichungen – unter anderem im Pflege-Report, in der G+G und der G+G-Wissenschaft –, bei Symposien, Kongressen oder politischen Diskussionsrunden ein – und alles untermauert durch Studiendaten.

Schon in der Schulzeit gehörten Zahlen zu seinem Metier. Denn der gebürtige Ostwestfale machte 1975 sein Abitur am mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig des Städtischen Helmholtz-Gymnasiums in Biele­feld. Danach studierte er Volkswirtschaftslehre an der Universität Bielefeld und schloss das Studium 1981 mit dem Diplom ab. 1991 promovierte er an der Freien Universität Berlin. Bevor Klaus Jacobs 2002 Geschäfts­führer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) wurde und dort den Forschungsbereich Gesundheitspolitik und Systemanalysen leitete, arbeitete er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Steuern, Finanzen und Sozialpolitik der Freien Universität Berlin, ab 1986 als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Wissen­schaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) und zwei Jahre später als Gesundheitsökonom beim Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES). Seit 2011 lehrt er als Honorarprofessor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen.

Auch wenn sich Klaus Jacobs als WIdO-Geschäftsführer in den Ruhestand verabschiedet hat, sind sein profundes Wissen und seine Vorstellungen von einer qualitativ hochwertigen und bedarfsgerechten Gesundheits- und Pflegeversorgung nicht nur etwas für die Geschichtsbücher – im Gegenteil: Denn er vermittelt sie Studierenden an der Universität Duisburg-Essen weiterhin. Auch wird er sicherlich künftig als gern ge­sehener Gast so manches Diskussionsforum bereichern.

Gabriele Hilger

Gleicher Beitrag für alle.

Danach genießen die Kernelemente des Solidarprinzips der GKV weiter hohe Akzeptanz: 82 Prozent der gesetzlich Versicherten und 80 Prozent der privat Versicherten finden es richtig, dass Gesunde den gleichen Beitrag bezahlen wie Kranke. Die Zustimmungswerte liegen deutlich höher als bei einer gleichlautenden WIdO-Befragung 2012. Auch die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Jugendlichen stößt auf große Zustimmung (GKV: 93 Prozent, PKV: 83 Prozent). Weniger Zustimmung gab es für die beitragsfreie Mitversicherung nicht erwerbstätiger Ehepartner. Der stärkeren finanziellen Belastung von Besserverdienenden gegenüber Geringverdienern als zentralem Merkmal des Solidarprinzips stimmten 73 Prozent der GKV-Versicherten und 68 der PKV-Versicherten zu. Eine große Mehrheit ist dagegen, Krankenversicherungen das Recht einzuräumen, Menschen wegen des Gesundheitszustands abzulehnen. Auf Ablehnung stoßen auch pauschale Risikozuschläge für Kranke oder erhöhte Eigenanteile.

Dualität nicht zeitgemäß.

Für den Volkswirt Professor Klaus Jacobs belegen die Ergebnisse einmal mehr, dass das Nebeneinander von GKV und PKV ein Auslaufmodell ist. Im Beisein vieler Gäste aus Wissenschaft, Politik und Gesundheitswesen verabschiedete sich Jacobs beim Symposium zur Zukunft des ­dualen Versicherungssystems mit einem Plädoyer für die solidarische Krankenversicherung aus der Institutsgeschäftsführung in den Ruhe­stand. Es sei bedauerlich, dass die Politik trotz „x-fach nachgewiesener“ Sach­argumente und der wachsenden finan­ziellen Probleme nicht ernsthaft über die naheliegende Lösung eines solidarischen Systems diskutiere, beklagte Jacobs. Und nannte sogleich einen Grund dafür: „Ein Großteil derjenigen, die sich mit der GKV beschäftigen, sind privat versichert: Beamte, Politiker, Wissenschaftler, Journalisten.“ Viele an verantwortlicher ­Stelle befürchteten auch individuell den Verlust von Privilegien.

Die Verlustangst sei unbegründet, erläuterten beim Symposium aus unterschiedlicher Perspektive die Gesundheitsökonomen Professor Reinhard Busse von der TU Berlin und Professor Jonas Schreyögg von der Universität Hamburg, der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), Professor Josef Hecken, und der Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes für die Versichertenseite, Knut Lambertin. Mit den gefühlten Privilegien der Privatversicherten sei es im Alltag nicht mehr weit her. Diese seien allenfalls noch am „emotionalen Thema Wartezeiten“ (Professor Schreyögg) und einer – nicht unbedingt gesundheitsförderlichen – Überversorgung festzumachen.

Keine Unterschiede bei der Qualität.

Die Systemunterschiede beträfen nicht die Qualität der Versorgung, sondern eher den Zugang zu Leistungen, sagte Ver­sichertenvertreter Lambertin. Sozioökonomische Faktoren wie Einkommen und Bildung und die damit verbundene Gesundheitskompetenz seien wichtiger als der Versichertenstatus. Es ärgere ihn, wenn die GKV in Arztpraxen mit Sprüchen wie „Das zahlt die Kasse nicht“ oder mit Verweis auf ein gar nicht vorhandenes Budget schlechtgeredet werde.

Die Angst davor, Privilegien zu verlieren, ist unbegründet.

Eine Wahl zwischen GKV und PKV hätten immer weniger Menschen, erläuterte Jacobs. „Etwa eine Million Menschen“, und das seien junge, gesunde Besserverdienende.
 
Dies treibt auch GBA-Chef Hecken um: „Wir können es uns nicht leisten, dass zehn Prozent der Bestverdienenden ­dauerhaft außerhalb des Systems stehen.“ Er wünsche sich, „wir hätten in zehn Jahren eine solidarische Vollversicherung für alle mit dem Leistungskatalog des Sozialgesetzbuches V“. Extraleistungen, darunter zum Beispiel Globuli, könnten über Zusatzversicherungen abgesichert werden. Darin sehe er „ein auskömm­liches Geschäft für die privaten Versicherungen“. Das PKV-Geschäftsmodell gerate nach 20 Jahren mit hohen Kostensteigerungen immer mehr unter Druck, führte Busse aus. Das Geld werde immer knapper, es gebe andere Prioritäten. Damit lasse sich auch das Versprechen, alles zu bezahlen, nicht durchhalten. Die Zahl der PKV-Vollversicherungen sinke seit Jahren, ergänzte Schreyögg. Dagegen boome weiter das Geschäft mit Zusatzversicherungen. Als ersten Harmonisierungsschritt empfahl er der Politik die Angleichung der Vergütungssysteme.

PKV-Argumente entkräftet.

Jacobs und Hecken stellten auch das Argument infrage, die PKV „quersubventioniere“ die GKV durch höhere Arzthonorare. Das Geld fließe in ohnehin gut versorgte Bereiche, nicht aufs Land und nicht dorthin, wo die Versorgung ausgedünnt sei. „Die Kinderärztin in Neukölln sieht davon wenig, aber die brauchen wir“, so Jacobs. „Ich kann Bedarfsplanung machen wie ich will – wenn sich ein Arzt am Ende nur daran orientiert, wo es mehr Privatversicherte gibt“, ergänzte Hecken. Auch die PKV-Aussage, erst das Geld der Privaten ermögliche Innovationen im Gesundheitswesen, wollte der GBA-Chef nicht gelten lassen. In der GKV gebe es keine Versorgung auf Mindestniveau. „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“, zitierte Hecken das SGB V. Im Gegenteil profitiere die PKV sogar von der GBA-Arbeit, etwa im Bereich von Qualitätssicherung und Arzneimittelbewertung.

Solidarische Finanzierung stärken.

Die im WIdO-Monitor veröffentlichten Forsa-Ergebnisse seien „hochspannend“, sagte die Vorstandschefin des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann, in der Diskussion mit der Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink und dem Gesundheitsökonomen Professor Heinz Rothgang von der Uni Bremen. „Sie zeigen, dass Werte wie Fairness und Gerechtigkeit bei den Menschen hoch im Kurs stehen.“ Statt über Leistungskürzungen, die Ausweitung von Eigenbeteiligungen oder eine Privatisierung des Krankheits- und Pflegerisikos nachzudenken, müsse sich die Politik mit der Stärkung der solidarischen Finanzierungselemente beschäftigen, so die Vorstandsvorsitzende.„Wir werden das Thema Bürgersicherung in der nächsten Legislaturperiode wieder auf die Tagesordnung setzen“, versprach Klein-Schmeink. Bis dahin gelte es, die bedarfsgerechte regionale Versorgung zu verbessern. Für die geplanten Versorgungsgesetze brauche Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach allerdings die Unterstützung des Bundeskanzlers.

Das WIdO hatte nach eigenem Bekunden auch PKV-Vertreter zum Symposium eingeladen. Leider seien alle Anfragen abschlägig beschieden worden.

Rothgang zeigte sich skeptisch, dass angesichts von Unternehmensinteressen und Beharren auf Privilegien eine Harmonisierung von GKV und PKV auf kurze Sicht kommen könne. Er plädierte dafür, zuerst die Pflegeversicherungen zu vereinheitlichen. Hier gebe es bereits identische Leistungen und Begutachtungskriterien. Das entspräche auch dem Willen der Bevölkerung: Laut WIdO-Monitor befürworten 86 Prozent der GKV-Versicherten und 64 Prozent der Privatversicherten eine Beteiligung aller, also auch von Beamten, Selbstständigen und Besserverdienenden an der solidarischen Finanzierung der Pflegekosten.

Dank für Engagement.

In der Schluss­runde dankte WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber seinem langjährigen Mit-Geschäftsführer für zwei Jahrzehnte kollegialer Zusammenarbeit. Das WIdO werde seine Themen weiter beackern. Reimann bedankte sich im Namen der AOK-Gemeinschaft. Seine engagierte Forschungstätigkeit habe auch der GKV insgesamt gedient.

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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