Interview

„Therapieberufen fehlt die Autonomie“

Ergo- und Physiotherapeuten sowie Logopäden können bei Patienten viel bewirken. Um den Nachwuchs in diesen Berufen zu sichern, müssen sich die Entwicklungsmöglichkeiten für die Absolventinnen und Absolventen verbessern, sagt Therapiewissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Hammer.

Frau Professorin Hammer, wie machen Sie jungen Menschen eine Ausbildung in einem Therapieberuf schmackhaft?

Sabine Hammer: Ergo- und Physiotherapie sowie Logopädie sind inhaltlich sehr schöne Berufe. Die Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten mit Menschen jeder Altersstufe, in der Regel einzeln und mit relativ viel Zeit – bis zu 45 Minuten pro Behandlung bei Ergotherapie und Logopädie. Sie haben einen intensiven Kontakt zu den Patientinnen und Patienten und können viel bewirken. Die Berufe sind außerdem fachlich anspruchsvoll und vielseitig, fast jedes medizinische Fachgebiet ist abgedeckt.

Porträt von Sabine Hammer, Professorin für Sozialforschung und Studiengangsdekanin Master Therapiewissenschaften an der Hochschule Fresenius

Zur Person

Prof. Dr. Sabine Hammer ist Professorin für Sozialforschung und Studiengangsdekanin Master Therapiewissenschaften an der Hochschule Fresenius.

Warum sehen Sie die Zukunft der Therapieberufe dennoch in düsterem Licht?

Hammer: Nach Zahlen der Agentur für Arbeit gehören die Therapieberufe zu den Engpassberufen: Auf 100 offene Stellen kommen 60 Interessenten und die Zeit, die eine offene Stelle unbesetzt bleibt, liegt deutlich über dem Durchschnitt anderer Berufe, ähnlich wie in der Pflege. In unserer Studie zur Berufsflucht haben zudem viele Therapeuten – auch junge Leute direkt nach der Ausbildung – gesagt, sie wüssten nicht, wie lange sie ihren Beruf noch ausüben könnten und äußerten Ausstiegsabsichten.

Warum wollen sie aus dem Beruf aussteigen?

Hammer: Das Gehalt war bisher sehr niedrig. Der Median fürs Bruttoentgelt lag laut Arbeitsagentur Ende 2017 bei rund 2.300 Euro für eine Vollzeitstelle in den Therapieberufen. Damit belegen sie einen der letzten Plätze unter allen Berufsgruppen. Der wichtigste Grund für die Ausstiegsabsichten sind mangelnde Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln. Deutschland ist eines der letzten Länder, in denen die Therapieberufe primär Ausbildungsberufe sind. In anderen Ländern haben die Therapeuten akademisches Niveau und arbeiten in der Regel auf Augenhöhe mit den Ärzten. Hierzulande fehlt vielen Therapeuten die Autonomie: Die Ärzte entscheiden, was behandelt werden soll.

In anderen Ländern arbeiten Therapeuten in der Regel auf Augenhöhe mit Ärzten.

Welche Folgen hätte ein Mangel an Fachkräften in den Therapieberufen?

Hammer: Patienten haben heute nach Ergebnissen unserer Studie Wartezeiten zwischen 30 und 60 Tagen. In ländlichen Gebieten finden sie manchmal überhaupt keinen Therapeuten mehr, besonders in der Physiotherapie. Für die Patienten kann das individuell verheerend sein – wenn sie beispielsweise nach einem Schlaganfall wieder Selbstständigkeit gewinnen wollen, aber keine therapeutische Unterstützung finden. Es produziert erhebliche Folgekosten, wenn zum Beispiel Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen ohne Logopädie schlechter in der Schule mitkommen und später berufliche Schwierigkeiten haben.

Das Schulgeld in den Gesundheitsberufen soll bis 2021 abgeschafft werden. Wird das den Nachwuchs fördern?

Hammer: Wenn die Ausbildung 20.000 Euro kostet und jemand hinterher wenig verdient, kann er das kaum selbst finanzieren. Die Abschaffung des Schulgeldes wird also auf jeden Fall Auswirkungen auf die Berufswahl haben. Allerdings wird damit der Akademisierung die Perspektive genommen, denn ein Studium kostet meist etwas. Zwar können auch nicht akademisierte Therapeuten ganz viel und sind praktisch gut ausgebildet. Aber wer studiert hat, kann seinen Master machen, promovieren, in die Lehre und die Forschung gehen. Das würde auch die Lobby der Therapieberufe stärken und mehr Mitsprache ermöglichen.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: privat