Therapie-Entscheidung

Debatte: Zu viel des Guten?

Intensivmedizin rettet Menschenleben. Doch nicht alles technisch Machbare ist auch im Sinne der Patienten, weiß Prof. Dr. med. Uwe Janssens. Der Internist plädiert dafür, vier ethisch-moralische Prinzipien anzuwenden: Selbstbestimmung, Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit.

Der medizinische Fortschritt

eröffnet Überlebensperspektiven in Situationen, in denen früher der Tod unvermeidlich war. Aber die Möglichkeiten und Chancen, Leben zu erhalten und zu verlängern, sind nicht frei von Ambivalenz und tragischen Konsequenzen. Wenn das Überleben nicht oder nur um den Preis einer dauerhaften schweren Einschränkung der Lebensqualität sichergestellt werden kann, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der weiteren Intensivbehandlung.
 
Die Intensivtherapie stellt medizinische, pflegerische sowie medizintechnische Verfahren, fachliches Wissen und eine hohe Personaldichte zur Verfügung mit dem Ziel, dass die betroffenen Patienten wieder ein Leben unabhängig von der Intensivstation führen können. Die zunehmende Komplexität der Operations- und Behandlungsverfahren und die demografische Entwicklung haben dazu geführt, dass hierzulande die intensivmedizinischen Kapazitäten ausgebaut wurden. Im internationalen Vergleich bieten deutsche Krankenhäuser ein hohes Leistungsniveau. Dies geht mit einer steigenden Anzahl von Operationen und komplexen Therapien wie der maschinellen Beatmung einher. Parallel beobachten wir in Deutschland eine starke Zunahme der außerklinischen Intensivpflege. Derzeit versorgen Pflegedienste etwa 25.000 Intensivpatienten außerhalb von Kliniken. Die Ausgaben dafür liegen bei fast sechs Milliarden Euro pro Jahr.

Eine Überversorgung ist in nahezu allen Bereichen der Medizin zu beobachten.

Dieses Phänomen ist Ausdruck einer zunehmend unkontrolliert agierenden Intensivmedizin. Denn: Nur Patienten von Intensivstationen werden in eine außerklinische Betreuung verlegt. Es ist zu befürchten, dass hier nicht nur in Einzelfällen eine Überversorgung stattfindet. Die technischen Möglichkeiten haben sich rasant weiterentwickelt. Manche davon kommen nahezu flächendeckend zum Einsatz, obwohl robuste Daten zur Effektivität bei den allermeisten Krankheitsbildern fehlen.

Mehr Schaden als Nutzen für die Patienten.

Der übermäßige Einsatz medizinischer Leistungen kann definiert werden als Behandlung, die nicht zu einer nennenswerten Verbesserung der Lebensqualität und -dauer führt, mehr Schaden als Nutzen verursacht oder von Patienten, die über Nutzen und Schaden informiert wurden, nicht gewollt wurde. Eine Überversorgung oder Übertherapie führt zu körperlichen, psychischen sowie finanziellen Belastungen und Schäden bei den betroffenen Patienten, lenkt in beträchtlichem Ausmaß Ressourcen im Gesundheitssystem um – und ist in nahezu allen Bereichen der Medizin zu beobachten. Die Ursachen sind vielfältig. Der Wunsch nach einer maximalen Therapie und deren Umsetzung liegt nicht ausschließlich in der Verantwortung der behandelnden Ärzte. Oft fordern auch Patienten oder Angehörige eine Behandlung ein, die die reale medizinische Situation ignoriert. Dass etwas technisch machbar ist, bedeutet im medizinischen Alltag noch lange nicht, dass damit ein aus Sicht der Patienten sinnvolles Therapieziel erreicht werden kann.

Politische Korrekturen sind überfällig.

Eine von der Politik geführte Diskussion über die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Intensivmedizin findet in Deutschland nicht statt. Die Verantwortung wird letztlich auf den Leistungserbringer vor Ort abgewälzt, der verschiedenen äußeren Zwängen ausgesetzt ist. Das finanzielle Überleben vieler Krankenhäuser hängt wesentlich von den Erlösen der Intensiv-, vor allem der Beatmungsmedizin ab. Hier ist dringend eine politische Korrektur notwendig, um diesen ökonomischen Druck zu reduzieren. Darüber hinaus müssen wir uns gesellschaftspolitisch mehr als bisher fragen, ob jede maximal mögliche intensivmedizinische Therapie wirklich sinnvoll ist. Die Intensivmedizin ist hier in der Pflicht, verlässliche wissenschaftliche Daten zu generieren, die den Fokus auf Lebensqualität, Integration in den Alltag und Langzeitüberleben richten.

Vier ethisch-moralische Prinzipien müssen bei der Indikationsstellung wieder in den Vordergrund der Bewertung rücken: die Autonomie des Patienten, die Schadensvermeidung, die Fürsorge und die Gerechtigkeit. Eine ärztliche Indikation darf niemals ohne ein patientenzentriertes Therapieziel gestellt werden und muss zwingend den Patientenwillen berücksichtigen. Diesen herauszufinden ist oft ein aufwendiger Prozess, der angesichts der zunehmenden Belastungen und Hektik auf der Intensivstation immer mehr in den Hintergrund tritt. Wir benötigen dringend einen transparenten Diskurs, der offensiv für eine verantwortungsvolle und ethisch fundierte Eingrenzung der Therapie und eine Fokussierung auf eine sinnvolle Intensivmedizin wirbt.

Uwe Janssens ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.
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