Der „Interkulturelle Demenzkoffer“ hilft türkischstämmigen Menschen dabei, ihr Gedächtnis zu trainieren.
Demenz

Ein Koffer für die Erinnerung

Wenn Menschen mit Migrationsgeschichte ihr Gedächtnis verlieren, hilft ihnen kultursensible Erinnerungsarbeit. Wie sich Institutionen, Fachleute und Ehrenamt darauf einstellen können, zeigten Praxisbeispiele auf einer digitalen Tagung. Von Änne Töpfer

Ein Teeglas, ein Backgammon-Spiel,

eine Mokkatasse und eine Flasche Rosenwasser nimmt Filiz Gülal aus dem „Interkulturellen Demenzkoffer“ für türkischstämmige Menschen. Sie arbeitet in der Stabsstelle Chancengerechtigkeit der Stadt Heilbronn und erläutert auf der Tagung „Demenz und Migration“ Ende Januar, wie sich Erinnerungsarbeit für Menschen mit Demenz und Migrationsgeschichte kultursensibel gestalten lässt. Gülal hat als Altenpflegerin gearbeitet und erlebt, dass Menschen mit Migrationshintergrund an den Beschäftigungsangeboten im Pflegeheim meist nicht teilgenommen haben. „Türkischstämmige Menschen basteln keine Oster­eier“, so die Erfahrung von Filiz Gülal.

Barrieren beseitigen.

Nach Informationen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft hatten Ende 2021 in Deutschland etwa 158.000 Menschen mit Migrationshintergrund eine Demenzerkrankung. Ihren Bedürfnissen widmet sich seit rund fünf Jahren die bundesweite Initiative „Demigranz“. Ihr Träger, Demenz Support Stuttgart, hatte gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum Gerontopsychiatrische Beratung aus Braunschweig und dem Caritas Forum Demenz Hannover zur Fachtagung eingeladen, um Netzwerke auf- und auszubauen. Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Nieder­sachsen hatte die digitale Veranstaltung organisiert.

Die Sicht auf die Demenz ist kulturell geprägt. Das muss in der Beratung berücksichtigt werden.

Sümeyra Öztürk von Demenz Support Stuttgart sagte, dass Menschen mit Demenz und Migrationsgeschichte unter einer „dreifachen Fremdheit“ litten. Sie entstehe durch die Demenz, das Älter­werden sowie den Verlust von Zweitsprache und Heimat, so die Sozialarbeiterin. Für die Zielgruppe – beispielsweise sogenannte Gastarbeiter, Spätaussiedler oder ältere Flüchtlinge vom Balkan – bestünden im Gesund­heits­system verschiedene Zugangsbarrieren. Daraus könnten sich Unterdiagnosti­zierung und Unterversorgung ergeben. Öztürk, selbst Enkeltochter eines Gastarbeiters, erläuterte das an einem Beispiel. „Wenn eine türkischstämmige Patientin sagt: Meine Lunge brennt, macht der Arzt vielleicht ein Röntgenbild vom Torso.“ Doch die Formulierung sei wörtlich aus der türkischen Sprache übersetzt und bedeute, dass die Patientin seelische Schmerzen habe.

Auch die Sicht auf die Demenz sei kulturell geprägt, so Öztürk. Die Krankheit werde möglicherweise als höhere Gewalt betrachtet, als Strafe einer höheren Macht oder gelte als Prüfung der Angehörigen. „Das muss in der Beratung berücksichtigt werden.“

Interkulturelle Öffnung hilft allen.

Ziel müsse eine interkulturelle Öffnung sein, beispielsweise des Personalbestands, der Organisationskulturen, der materiellen Infrastrukturen und der Handlungsstrategien, sagte Öztürk. „Das ist die Realisierung grundlegender Menschenrechte. Die interkulturelle Öffnung ist hilfreich für alle.“ Die Tagung zeigte anhand von Beispielen, wie eine solche Öffnung zu erreichen ist.

• Demenz und Migration
• Online-Fachtagung: „Demenz und Migration“ (25. Januar 2023)

So berichtete Dr. Farahnaz Javanmardi, Mitarbeiterin der Interkulturellen Servicestelle für Gesundheits­fragen in Braunschweig, über den Einsatz von interkulturellen Gesundheitslots­innen und -lotsen. Die Schulung der auf Honorarbasis tätigen Lotsen – sie beherrschen eine oder mehrere von insgesamt 14 Sprachen – umfasse Informationen zu Demenz und Altenhilfe. „Wir wollen Migranten motivieren, Angebote aus dem sozialen und medizinischen Bereich in Anspruch zu nehmen“, sagte Javanmardi. Zudem gehe es darum, die Eigenverantwortung für die Gesundheit zu fördern. Auch in der Schulung von Demenzhelferinnen und -helfern nach Paragraf 45 Sozialgesetzbuch XI sollte Kultursensibi­lität eine Rolle spielen. In Braunschweig haben zwölf Frauen aus zehn Ländern beim Kompetenzzentrum Gerontopsychiatrische Beratung die Schulung durchlaufen. Ihre Arbeit fließe in die Braunschweiger Nachbarschaftshilfen ein, wie Michael Baumgart von der Gerontopsychiatrischen Beratungsstelle sagte.
 
Im Projekt „MiMi – Mit Migranten für Migranten“ ist das Ziel, Gesundheitswissen kultursensibel zu vermitteln. Diplom-Psychologin Elena Kromm-Kostjuk vom Ethno-Medizinischen Zentrum Hannover, dem Träger des Projekts, betonte die Bedeutung des Setting-Ansatzes: „Man muss dahin gehen, wo sich Migrantinnen aufhalten.“ Daher kooperiere die MiMi-Initiative an ihren bundesweit 70 Standorten mit Migrantenvereinen. MiMi bildet „interkulturelle Gesundheitsmediatorinnen“ aus und ist von der Weltgesundheitsorganisation als Best-Practice-Modell ausgezeichnet worden. Zu den Schulungsinhalten gehören Alter, Pflege und Demenz.

Änne Töpfer ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
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