Nachruf

Kämpfer für evidenzbasierte Arzneimittel-Therapien

„Dieses ist kein Werk

des späten Piet Mondrian, sondern eine Seite des aktuellen Arzneiverordnungs-Reports,“ schrieb eine Journalistin sinngemäß. Sie meinte damit die Abbildung eines Druckerzeugnisses, auf dem nur schwarze Balken und schwarze Rechtecke unterschiedlicher Größe zu erkennen waren. Es handelte sich um den Arzneiverordnungs-Report 1997. Im „Nachtrag zum Vorwort“ schrieb der Herausgeber Professor Dr. Ulrich Schwabe, die Landgerichte Hamburg und Düsseldorf hätten Anträgen von Pharmafirmen auf einstweilige Verfügungen stattgegeben. Daher hätten sich Verlag und Herausgeber entschlossen, die betreffenden Tabellen und Textpassagen zu schwärzen.

Porträt von Professor Ulrich Schwabe, Arzt und Arzneimittelexperte

Professor Ulrich Schwabe, Arzt und Arzneimittelexperte, ist verstorben.

 

 

Seit 1980 wurde im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) eine bundesweite Stichprobe ärztlicher Arzneiverordnungen erhoben und ausgewertet. Die gewonnenen Erkenntnisse waren so spannend, dass sich 1985 die Beteiligten entschlossen, sie als Buch der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Chef-Heraus­geber war Ulrich Schwabe, der die Arbeiten des WIdO pharmakologisch strukturierte. Aus dem kleinen Taschenbuch des Jahres 1985 entwick­elte sich im Laufe der Jahre ein fast 1.000 Seiten umfassendes Standardwerk zum Arzneimittelmarkt des jeweiligen Jahres. Damit erhielt Deutschland zum ersten Mal überhaupt umfassende Transparenz über die kassenärztlichen Arzneimittelverordnungen. Gleichzeitig war es nun aber auch möglich, die „Rationalität“ der Arzneimitteltherapie zu überprüfen. Die Gesundheitspolitik erhielt ferner die Möglichkeit einer faktenbasierten Gesetzgebung zum Arzneimittelmarkt.

Diese neuen Dimensionen der Transparenz, ihre öffentliche und politische Resonanz waren es denn auch, die zu den erwähnten Schwärzungen führten. Die Bewertung von Arzneimittelgruppen als „umstritten“, die maßgeblich Ulrich Schwabe verantwortete, wurde als so einflussreich wahrgenommen, dass betroffene Arzneimittelhersteller juristische Schritte für notwendig erachteten.

Dem Argument, Ulrich Schwabe sei bei der Bewertung nicht seinem eigenen wissenschaftlichen Urteil, sondern Einflüssen von Krankenkassen gefolgt, schlossen sich wenig später die Ge­richte selbstverständlich nicht an. Letztendlich obsiegten die „Beklagten“ des Arzneiverordnungs-Reports über die klagenden Pharmafirmen. Trotzdem hat die strikte Wahrung seiner wissenschaftlichen Unabhängigkeit Ulrich Schwabe seither stärker denn je geprägt. Umso gewichtiger war denn auch, was er zum Arzneimittelmarkt sagte und wo er das tat. Er war Mitglied in den wichtigsten pharmakologischen Gremien und gefragter Referent, wo immer es um aktuelle Fragen der Arzneitherapie und Gesundheitspolitik ging. Die intensive und bis ins Detail von ihm selbst geleistete Arbeit am jährlich erscheinenden Arzneiverordnungs-Report zeigte sein beinahe enzyklopädisches Wissen. Abweichungen von seinem Ideal einer „rationalen Arzneitherapie“ suchte er faktenbasiert zu korrigieren. Ein Arzneimittel mit „umstrittener“ Wirksamkeit war aus seiner Sicht nichts anderes als das Vorent­halten einer wirksamen Therapie. Mit mindestens der gleichen Intensität attackierte er ungerechtfertigte Preisunterschiede bei Arzneimitteln und die daraus resultierenden Gewinne der betreffenden Hersteller. Er forderte und organisierte internationale Preisvergleiche, denn diese würden auch hier die nötige Transparenz und gegebenenfalls Korrekturmechanismen schaffen. Auch bei den „Einsparpotenzialen“ der verschiedenen Segmente des Arzneimittelmarktes, die beinahe so etwas wie sein Erkennungszeichen wurden, ging es ihm letztlich darum, Ausgaben ohne Zusatznutzen in wichtige, wirksame Therapie umwidmen zu können.

Dass er diese Ziele nicht nur in wirk­licher Unabhängigkeit und mit gigantischem Fachwissen, sondern auch mit streitbarer Konsequenz und nicht zuletzt mit Fantasie und Humor erreichen konnte, zeigt die eingangs erwähnte Episode des „geschwärzten“ Reports.

Ulrich Schwabe starb am 28. Februar 2021 im Alter von 85 Jahren in Heidelberg.

Dr. Dieter Paffrath, langjähriger Mitherausgeber des Arzneiverordnungs-Reports

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