Thema des Monats

Pflege unter Druck

In den vergangenen beiden Legislaturperioden hat die Politik im Bereich der Pflege zahlreiche Gesetze und Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht. Die zentralen Probleme aber sind nach wie vor ungelöst, mahnt Nadine-Michèle Szepan und beschreibt, was die neue Bundesregierung nun zügig anpacken muss.

Die neue sozialrechtliche Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die Ausweitung des Leistungsspektrums der Pflegeversicherung haben die Pflegepolitik der letzten Jahre geprägt und die Bedarfslagen, die individuellen Fähigkeiten und die Ressourcen der pflegebedürftigen Menschen in den Mittelpunkt der Versorgung gerückt. Diese Ansätze in den gelebten Pflegealltag zu implementieren, ist eine herausfordernde Aufgabe, auch und gerade angesichts der vielen drängenden Baustellen, die den Pflegebereich ohnehin kennzeichnen.

Man kann der Politik hinsichtlich der Pflegegesetzgebung nicht nachsagen, sie sei untätig gewesen – im Gegenteil: Kritiker sprechen von einem wahren „Reform-Aktionismus“, der die letzten beiden Legislaturperioden geprägt habe. Mit einer Reihe von Gesetzen, vom Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz (PpSG) über das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) bis hin zum Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), wollte die Regierungskoalition die pflegerische Versorgung, die Personalausstattung und die Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege verbessern, mehr Qualität und Transparenz in der Versorgung herstellen und gleichzeitig die Finanzen in der sozialen Pflegeversicherung stabilisieren.
 
Im Juni 2019 haben sich zudem die wichtigsten Akteure aus Politik und Praxis im Zuge der Konzertierten Aktion Pflege auf ein umfassendes Maßnahmenpaket verständigt, das mehr Ausbildung, mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Entlohnung in der Pflege zum Ziel hat. Die Bilanz aller dieser Bemühungen ist aus Sicht der AOK nach wie vor ernüchternd: Bei all dem Engagement wurde weder das Augenmerk auf eine ganzheitliche strukturbildende Reform gelegt noch auf die Folgen. Damit blieben nicht nur zentrale Probleme in der Pflege ungelöst, sie wurden teilweise sogar noch verschärft.

Pflegebedürftigkeit verzögern.

Die Alterung der Gesellschaft in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Da mit zunehmendem Alter das Risiko, pflegebedürftig zu werden, steigt, sind immer mehr Menschen auf Pflegeleistungen angewiesen (siehe Grafik „Gesetzliche Pflegeversicherung: Zahl der Leistungsempfänger wächst“). Durch geeignete Präventions- und Unterstützungsangebote ließe sich in vielen Fällen das Eintreten einer Pflegebedürftigkeit verzögern oder ihr Ausmaß verringern. Aber wie gelingt es, die Prävalenz von Pflegebedürftigkeit positiv zu beeinflussen?

Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter geht zurück. Wenn aber immer weniger Menschen Beiträge zahlen und gleichzeitig mehr Menschen Pflegeleistungen erhalten, wird sich das auf die Finanzierung der Pflegeversicherung auswirken. Diese Entwicklungen tragen außerdem dazu bei, den heute schon bestehenden Fachkräftemangel in der Pflege weiter zu verschärfen – trotz aller Bemühungen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern und die Pflegeberufe attraktiver zu machen. Durch das sinkende Erwerbspersonen-Potenzial steht die Pflege zunehmend in Konkurrenz zu vielen anderen, auch fachfremden Branchen, in denen es ebenfalls an Arbeitskräften mangelt. Wie kann es gelingen, dennoch genügend Fachpersonal für die Pflege zu gewinnen und effizient in der Versorgung einzusetzen? Und wie kann unter diesen Umständen die Finanzierungsgrundlage der Pflege nachhaltig gesichert und dauerhaft für Generationengerechtigkeit gesorgt werden? Wie lässt sich sicherstellen, dass die Kostendynamik insbesondere die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen finanziell nicht überfordert?

Neue Akzente in der Unterstützung setzen.

Pflege geht weit über das hinaus, was die Pflegeversicherung abdeckt und finanziert. Ein erheblicher Teil der Versorgung pflegebedürftiger Menschen wird derzeit noch durch pflegende An- und Zugehörige sichergestellt. Die demografische Entwicklung und der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung führen nicht nur dazu, dass künftig immer weniger Pflegebedürftige auf Unterstützung aus ihrem privaten Umfeld zählen können. Auch für die individuellen Präferenzen und komplexen Bedarfslagen von pflegebedürftigen Menschen wird eine passgenaue Versorgung erwartet. Es ist darum unabdingbar, die pflegerischen und familialen Versorgungs- und Unterstützungssysteme zu stärken und die Potenziale von sorgenden Gemeinschaften („caring communities“) und sozialräumlichen Sorgestrukturen zu nutzen – nicht nur vor dem Hintergrund, dass die institutionalisierte Pflege den Bedarf schon jetzt nicht decken kann. Sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Pflege gibt es vielerorts zu wenige Plätze und Ressourcen und lange Wartelisten.

Zentrale Probleme der Pflege haben sich teilweise noch verschärft.

Wie also kann die Pflege vor Ort bedarfsgerecht organisiert und gestaltet werden? Wie lassen sich die Angebotsstrukturen zwischen Heim und Häuslichkeit besser diversifizieren? Wie kann man die familiale Pflegebereitschaft als unverzichtbaren Baustein der Pflegerealität stärken?

Auch bei der Ausgestaltung der Versorgung besteht noch Verbesserungsbedarf. Menschen haben durch ihre unterschiedlichen Beeinträchtigungen komplexe medizinische, therapeutische, pflegerische und soziale Unterstützungsbedarfe und Bedürfnisse. Wie lässt sich das heutige, an Leistungserbringerstrukturen orientierte Gesundheits- und Pflegesystem so ausrichten, dass der Mensch mit seinem Unterstützungsbedarf, seinen Präferenzen und seinen Rechten im Mittelpunkt der Versorgung steht?

Ziele der Pflegeversicherung als Maßstab.

Die Pflegeversicherung wurde 1995 neben der Kranken-, der Unfall-, der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung etabliert. Die Ziele, die die soziale Pflegeversicherung bei ihrer Einführung verfolgte, taugen auch als Maßstab für ihre Weiterentwicklung: Ihr oberstes Ziel ist es, pflegebedürftigen Menschen weitestgehend ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und sie selbst entscheiden zu lassen, wo, wie und von wem sie gepflegt werden möchten.

Die Pflegeversicherung soll darüber hinaus dazu beitragen, einer pflegebedingten Sozialhilfeabhängigkeit vorzubauen, indem sie die aus der Pflegebedürftigkeit entstehenden Belastungen abmildert. Sie basiert dabei auf dem Grundsatz der Eigenverantwortung und Subsidiarität. Das heißt: Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung, sondern gewährleistet eine soziale Grundsicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen, die die Eigenleistung der Versicherten ergänzen. Diese Konzeption als Teilleistungssystem trägt dem Umstand Rechnung, dass für die Pflege auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung zugrunde gelegt wird.

Paradigmenwechsel in der Pflege umsetzen.

Diese grundsätzliche Zielsetzung der Pflegeversicherung ist durch die sozialrechtliche Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die seit 2017 gilt, erweitert und präzisiert worden. Die Neufassung hat nicht nur einem größeren Personenkreis den Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung eröffnet, sondern gleichzeitig eine pflegefachlich und pflegewissenschaftlich fundierte Grundlage dafür geschaffen, die Pflege stärker als zuvor an den individuellen Bedürfnissen und Bedarfen der Menschen auszurichten.
 
Maßgeblich für die Pflege sollen seitdem die jeweiligen Fähigkeiten respektive Ressourcen der Pflegebedürftigen in allen relevanten Lebensbereichen sein: Diese gilt es fördern und zu unterstützen, damit die Betroffenen ein möglichst autonomes und selbstständiges Leben führen können. Akzente pflegerischen Handelns müssen daher stärker auf den Erhalt und die Wiedererlangung von (Selbst-)Pflegekompetenzen, auf den Aufbau individueller Unterstützungsnetzwerke und auf die Bedarfskonstellation in der häuslichen Umgebung gerichtet sein. Mit Blick auf ein ganzheitliches Menschenbild und auf eine Teilhabeorientierung werden Pflegefachpersonen den Pflegeprozess steuern und pflegerische Interventionen auch mit Unterstützung eines breiten Spektrums an Assistenz- und Engagementstrukturen übernehmen.

Grafik: Gesetzliche Pflegeversicherung – Zahl der Leistungsempfänger wächst

Die Zahl der Versicherten, die Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung beziehen, wird immer größer. Sie hat sich innerhalb von 25 Jahren mehr als vervierfacht und überschritt im Jahr 2020 bereits deutlich die Schwelle von vier Millionen. Besonders groß sind die Zuwächse im Bereich der ambulanten Pflege. Durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017 hat sich der Kreis der anspruchsberechtigten Menschen deutlich erweitert: Seitdem werden körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen gleichermaßen berücksichtigt. Die Zahl der Leistungsbezieher, die in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, wird erst seit 2019 separat erfasst; zuvor wurden diese Menschen entweder dem ambulanten oder dem stationären Bereich zugeordnet.

Quelle: Geschäftsstatistik der Pflegekassen

Der pflegebedürftige Mensch soll die nötige Unterstützung erhalten, die es ihm erlaubt, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Dabei gilt es, seine Selbstständigkeit zu erhalten und zu stärken, seine Versorgungssituation zu stabilisieren und seine Pflege- und Selbstpflegekompetenzen durch Information, Be­ratung und Anleitung zu fördern. Richtschnur für die pflegeri­schen Aufgaben und Versorgungsziele muss die Unterstützung der pflegebedürftigen Menschen und ihrer An- und Zugehöri­gen sein, auf deren Bedürfnisse und aktuellen Problem- und Bedarfslagen sie flexibel eingehen sollte. Das Hilfespektrum ist dafür über die bisherigen (teil-)kompensatorischen Hilfen hin­aus zu erweitern und sollte auch den Aufbau und die Koordina­tion eines Unterstützungsnetzwerkes umfassen.

Diesen Paradigmenwechsel im Pflegeverständnis gilt es Schritt für Schritt weiter in der Pflegepraxis umzusetzen und ihn zugleich als Leitgedanken für die Weiterentwicklung der Pflege und der Pflegeversicherung zu verankern. Alle künftigen Reformbemühungen sollten sich an dem Ziel ausrichten, die Versorgung und Unterstützung nach den Wünschen und Bedarfen der Pflegebedürftigen auszugestalten.

Pflegebedürftige Menschen haben einen Anspruch auf pflegerische Hilfen bei der Bewältigung der Folgen von Krankheit und funktionellen Beeinträchtigungen gleichermaßen wie ein Recht auf Normalität – individuelle Lebensführung, Beibehaltung vertrauter Alltagsroutinen, gemeinschafts- und familienähnliche Lebens- und Wohnstrukturen und auch bei Pflegebedürftigkeit in der vertrauten Umgebung, im angestammten Quartier bleiben zu können. Die soziale Pflegeversicherung bietet noch keinen ausreichenden Rahmen, diesen kodifizierten Rechten pflegebedürftiger Menschen ausreichend Rechnung zu tragen.

Zielbild für eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung.

Die AOK-Gemeinschaft hat bereits im Frühjahr 2021 mit ihrem „Zielbild Pflege 2030“ ein Konzept für die strukturelle Weiterentwicklung der Pflegeversicherung für die kommenden Legislaturen vorgelegt. Damit werden die Weichen für eine ganzheitliche, strukturbildende Reform der Pflegeversicherung gestellt, die die Bedingungen für professionell Pflegende, pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen gleichermaßen verbessert. Dabei wurden sowohl die Kostenfolgen der pflegerischen Versorgung als auch ihre Finanzierung durch die Solidargemeinschaft der Beitragszahlenden, der Steuerzahler und der pflegebedürftigen Menschen selbst berücksichtigt. Ermöglicht wird dies durch eine kluge Weiterentwicklung des bestehenden familienbasierten Teilleistungssystems der Pflegeversicherung. Die AOK-Gemeinschaft hat Leitplanken hierfür definiert, die den eingangs skizzierten Zielsetzungen Rechnung tragen und einen verbindlichen Rahmen für den Reformprozess abstecken.

Der Mensch steht im Mittelpunkt der Versorgung.

Ziel jeder Pflegereform muss sein, das stark durch die Leistungserbringerstrukturen geprägte Gesundheits- und Pflegesystem so auszurichten, dass es den Menschen mit seinem jeweils individuellen medizinischen, therapeutischen, pflegerischen und sozialen Unterstützungsbedarf, seinen Präferenzen und Rechten in den Mittelpunkt der Versorgung stellt.

Pflegebedürftige Menschen sollten die nötige Unterstützung erhalten, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.

Das Pflegeversicherungsrecht muss mit seinen leistungs- und vertragsrechtlichen Regelungen den Raum für dezentrale Lösungen schaffen. Und es sollte dem Verständnis von ganzheitli­cher Pflege Rechnung tragen, indem es sich nicht länger an Leistungserbringerstrukturen, sondern an den Bedarfslagen der Menschen mit Unterstützungsbedarf ausrichtet. Wie auch das Pflegebegutachtungsergebnis – die Einstufung in einen Pflegegrad – nicht davon abhängig ist, ob der Pflegebedürftige zu Hause oder in einer vollstationären Langzeitpflegeeinrichtung lebt, dürfen auch die Leistungen der Pflegeversicherung nicht abhängig davon sein, ob der Pflegebedürftige ambulant oder stationär versorgt wird. Die Pflegeversicherung ist sektorenunabhängig auszugestalten. Das bedeutet:

  • Leistungen der Pflegeversicherung werden in der Höhe zwar abhängig vom Pflegegrad, aber unabhängig vom Ort der Versorgung gewährt. Für das Vertragsrecht der Pflegeversicherung heißt das in der Konsequenz: An die Stelle einer Auflistung von Einzelmaßnahmen muss eine Beschreibung der pflegerischen Hilfen, Aufgaben und Versorgungsziele treten. Pflegerische Interventionen sollten flexibel und bei Bedarf auch zeitlich begrenzt in Anspruch genommen werden können.
  • Behandlungspflege wird unabhängig vom Ort von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert.
  • Damit pflegebedürftige Menschen möglichst selbstbestimmt und trotz der Beeinträchtigungen selbstständig leben können, werden die bisherigen Leistungen der Pflegeversicherung zu einem Basis-, Leistungs- und Entlastungsbudget zusammengeführt, um eine flexible und passgenauere Inanspruchnahme zu ermöglichen.
  • Ergänzend erhält jeder Pflegebedürftige unabhängig vom Versorgungsort einen Vollversicherungsanspruch auf eine neu ausgerichtete Kurzzeitpflege mit einem pflegerisch-therapeutischen Versorgungsansatz, der zum Ziel hat, eine größtmögliche Selbstständigkeit wiederzuerlangen respektive aufrechtzuerhalten.

Pflege findet vor Ort statt.

Um den medizinisch-pflegerischen Bedarfslagen von pflegebedürftigen Menschen Rechnung zu tragen, sind passgenaue, umfassende und ineinandergreifende Versorgungsangebote von Primär- und Langzeitversorgung sowohl innerhalb der Gesundheitsprofessionen als auch zwischen Gesundheitsprofessionen und der Zivilgesellschaft nötig. Pflegebedürftige Menschen leben in sozialen Zusammenhängen. Die Unterstützung wird nicht nur von Professionellen, sondern auch von An- und Zugehörigen, Freunden, Nachbarn und von Freiwilligen mitgestaltet. Eine qualitativ gute Versorgung kann nur gelingen, wenn den unterschiedlichen lokalen Herausforderungen für ländliche Regionen und Städte Rechnung getragen wird. Die sozialräum­lichen Sorgestrukturen müssen darum den Bedarfslagen von pflegebedürftigen Menschen und ihren Zugehörigen entsprechend lokal gestaltet werden. Gute Lebensbedingungen für Menschen mit Pflegebedarf können also nur erzielt werden, wenn die Pflegeinfrastruktur durch eine abgestimmte Verbindung von professioneller Pflege und Unterstützung aus dem sozialen Umfeld geprägt ist.

Land, Kommune und Pflegekassen stehen in einer gemeinsamen Verantwortung, sowohl Menschen mit Pflegebedarf als auch Menschen mit Pflegeverantwortung zu unterstützen. Für eine Steuerung und Einlösung der Infrastrukturverantwortung müssen Kommunen und Pflegekassen daher strategisch und operativ zusammenarbeiten. Eines der zentralen Instrumente ist die Pflegestrukturplanung. Für ihre bedarfsgerechte Ausgestaltung ist ein systematisches und kontinuierliches Monitoring durchzuführen, das die Infrastruktur und insbesondere die Bedarfsentwicklung abbildet. Dazu gehört auch, ein regionalisiertes und sektorenübergreifendes Personalbedarfsmonitoring zu etablieren. Routinedaten der Kranken- und Pflegekassen als auch Erkenntnisse aus den Auswertungen des Case-Managements haben eine große Relevanz für das Care-Management. Damit aber auch eine verbindliche Umsetzung der Pflegeinfrastrukturplanung gelingen kann, sind diese ins Einvernehmen mit den Pflegekassen zu stellen; den Pflegekassen wird durch die Aufhebung des Kontrahierungszwangs die Umsetzung ermöglicht.

Expertise nutzen.

Kranken- und Pflegekassen sind Experten in Sachen Pflege. Diese Expertise sollte für eine Verbesserung der Pflege besser nutzbar gemacht werden. Dafür ist es sinnvoll, die Gestaltungsspielräume zur Entwicklung qualitativ hochwertiger integrierter Versorgungsangebote zu erweitern, um das gesamte Spektrum an Pflegestrategien von der Gesundheitsförderung über die Behandlung von Gesundheitsproblemen bis hin zur palliativen Betreuung besser nutzen zu können. Auch das Beratungspotenzial der Kranken- und Pflegekassen sollte gestärkt und besser ausgeschöpft werden: Als „echte“ Systemlotsen im Sinne eines Case-Managements könnten sie Pflegebedürftige und ihre Angehörigen noch wirksamer unterstützen.

Rolle der Gesundheitsfachberufe weiterentwickeln.

Die Pflege nimmt eine zentrale Rolle bei der Sicherung der Versorgungskontinuität ein. Sie könnte wesentlich dazu beitragen, die Versorgung nicht nur patientenzentrierter, sondern auch sektoren-übergreifend zu gestalten und damit den heutigen Defiziten in der Koordination und Kommunikation der an der Versorgung Beteiligten entgegenwirken.

Ein vielversprechender Ansatz ist, das Rollenverständnis der Pflege stärker in den Blick zu nehmen und ihre Kompetenzen und Potenziale zu nutzen, um Menschen mit gesundheitlichen und pflegerischen Bedarfslagen einen niedrigschwelligen Zugang zur Versorgung zu ermöglichen. Insbesondere Pflegefachpersonen mit erweiterter klinischer Expertise auf Masterniveau (zum Beispiel Community Health Nursing) haben Kompetenzen, um eine eigenständigere Rolle in der Versorgung einzunehmen. Hierfür wäre ein erster wichtiger Schritt, mit relevanten Stakeholdern eine Roadmap mit dem Ziel zu erarbeiten und umzusetzen, Community Health Nursing in teambasierten Angebotsstrukturen zu etablieren.

Auf Kostenfolgen für Beitragszahler reagieren.

Eine große Herausforderung liegt darin, für alle Menschen eine qualitativ gute Pflege sicherzustellen, ohne die Solidargemeinschaft über Gebühr zu belasten. Die Pflegeversicherung übernimmt bisher die Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge für Pflegepersonen und Infrastrukturleistungen der Daseinsvorsorge im Umfang von heute 3,6 Milliarden Euro. Für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist ein verlässlicher, zweckgebundener, regelmäßig zu dynamisierender Bundesbeitrag aus Steuermitteln an den Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung zu leisten.

Eigenanteil von pflegebedürftigen Menschen spürbar begrenzen.

Unbestritten ist es, dass pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen finanziell bei den Eigenanteilen entlastet werden müssen. Nachdem in der 19. Legislatur die Leistungen der Pflegeversicherung in der Höhe über vier Jahre nicht angepasst wurden, braucht es dringend eine Antwort, die pflegebedürftige Menschen vor einer wirtschaftlichen Überforderung bei ihren Eigenanteilen schützt. Mit der Übernahme der Behandlungspflege durch die GKV (320 Euro) und den Investitionskosten der Länder (443 Euro) lässt sich kurzfristig eine spürbare Entlastung bei den pflegebedingten Eigenanteilen um mehr als ein Drittel erreichen. Mit einer jährlichen regelgebundenen Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen können die steigenden Kosten bei den Eigenanteilen zusätzlich abgefedert werden.

Nadine-Michele Szepan leitet die Abteilung Pflege im AOK-Bundesverband.
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