Grenzen überwinden: Die Große Koalition will für eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem stationären und ambulanten Sektor sorgen.
Sektorenübergreifende Versorgung

Noch viele Baustellen

Union und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, die sektorenübergreifende Versorgung zu stärken. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat nun ein erstes Papier vorgelegt. Bei der AOK stößt dieser Zwischenstand jedoch auf deutliche Kritik. Von Thorsten Severin

Unter sektorenübergreifender

Versorgung wird im Allgemeinen die Kooperation und Vernetzung der verschiedenen Fachdisziplinen und Sektoren wie Hausärzte, Fachärzte und Krankenhäuser verstanden. Diese Form der besseren Zusammenarbeit steckt in Deutschland trotz vieler positiver Ansätze und einer Reihe von Modellprojekten allerdings weiter in den Kinderschuhen. CDU/CSU und SPD haben daher in ihrem Vertrag vom vergangenen Jahr vorgesehen, Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen zu verstärken. „Für eine sektorenübergreifende Versorgung wollen wir weitere nachhaltige Schritte einleiten, damit sich die Behandlungsverläufe ausschließlich am medizinisch-pflegerischen Bedarf der Patientinnen und Patienten ausrichten“, heißt es dort.

Vorgesehen ist, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe bis 2020 Vorschläge für die Weiterentwicklung zu einer sektorenübergreifenden Versorgung des stationären und ambulanten Systems macht und zwar „im Hinblick auf Bedarfsplanung, Zulassung, Honorierung, Kodierung, Dokumentation, Kooperation der Gesundheitsberufe und Qualitätssicherung unter Berücksichtigung der telematischen Infrastruktur“. Diese Bund-Länder-Arbeitsgruppe tagt bislang hinter verschlossenen Türen. Das erste Lebenszeichen ist ein Eckpunktepapier mit Zwischenergebnissen.

Länder sollen entscheiden.

Darin ist unter anderem vorgesehen, Versorgungslücken im ambulanten Sektor zu schließen, indem Kapazitäten von Krankenhäusern für die Sicherstellung der ambulanten Grundversorgung genutzt werden, sofern dies mit Vertragsärzten nicht möglich ist. Dafür soll der gesetzliche Rahmen für stationäre Versorgungseinrichtungen weiterentwickelt werden. Die Länder sollen die Möglichkeit erhalten, in von ihnen bestimmten ländlichen oder strukturschwachen Gebieten mit einem zusätzlichen ambulanten Versorgungsbedarf Kliniken einen entsprechenden Auftrag zu übertragen.

Die Vorschläge der Arbeitsgruppe fördern die Kommunikation nicht.

Das Leistungsspektrum soll sich auf die Bereiche beschränken, in denen ein aktueller oder zukünftiger Bedarf besteht. Voraussetzungen und Prüfmaßstäbe für dieses Verfahren sollen durch eine Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums festgelegt werden. Die Krankenkassen sollen die Leistungen unmittelbar vergüten. Insgesamt sind drei Optionen vorgesehen: Krankenhäuser werden in ambulante Gesundheitszentren umgewandelt, wobei das stationäre Angebot komplett entfällt. Oder Kliniken werden in ambulant-stationäre Gesundheitszentren (ASGZ) überführt, wenn sie defizitär arbeiten oder nicht vollständig ausgelastet sind. Bei einer dritten Variante erhalten Krankenhäuser einen zusätzlichen ambulanten Versorgungsauftrag, ohne zu einem ASGZ zu werden.

Aufgabe der Selbstverwaltung.

Birgit Schliemann, beim AOK-Bundesverband zuständig für die sektorenübergreifende Versorgung, hält es grundsätzlich für begrüßenswert, Kliniken an der Sicherstellung der ambulanten Versorgung zu beteiligen, soweit dies notwendig ist. Kritisch sieht sie nach eigenen Worten, wenn die Länder eine parallele ambulante Versorgung aufbauen und über Versorgungsaufträge entscheiden. Über zusätzliche ambulante Angebote müsse immer regional vor Ort entschieden werden. Die Planung und Zulassung solcher Leistungen sei eine originäre Aufgabe der Selbstverwaltung und müsse es bleiben.

Im Gegenteil böten die Eckpunkte keine Ansatzpunkte zur übergreifenden Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Sektoren, fasst Schliemann zusammen. „Das sektorale Nebeneinander bleibt so nicht nur erhalten, sondern wird sogar um einen neuen ambulanten Bereich am Krankenhaus ergänzt, der Flickenteppich wird weiterentwickelt“, betont sie.

Krankenkassen nur als Zahler.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden in dem Konzept gar nicht erwähnt und auch den Krankenkassen wird nur die Rolle der Zahler zugewiesen, denn sie sollen die unter dem Dach der Kliniken erbrachten Leistungen direkt vergüten. Während sie die vertragsärztliche Versorgung in regionaler Verantwortung gestalten, sollen sie bei der ambulanten Versorgung durch die Krankenhäuser außen vor bleiben.

Als ein Modell, um die sektorenübergreifende Versorgung voranzubringen, gilt die Umwandlung von Kliniken in ambulant-stationäre Zentren. Ein solches Zentrum entsteht zurzeit im brandenburgischen Templin. Dort wird das Sana Krankenhaus mit Mitteln aus dem Innovationsfonds umgebaut. Ab dem Spätsommer 2020 soll es optimale Arbeitsbedingungen für die unterschiedlichen Fachrichtungen bieten.

Das Konzept setzt auf eine enge Vernetzung von Haus- und Fachärzten, Krankenhaus, Apotheken, Therapeuten und Pflegediensten, um schwerkranken und akut erkrankten Patienten eine schnelle und individuelle Behandlung im ländlichen Raum zu bieten. Der Neubau umfasst neben einer modernen Bereitschaftspraxis interdisziplinäre Untersuchungs- und Behandlungsräume für verschiedene Fachdisziplinen. Die medizinisch notwendigen Versorgungen sollen auf sich ändernde Bedarfe ausgerichtet und aus einer Hand ambulant und stationär erbracht werden. Termine, Therapien oder Notfallmaßnahmen werden von zentraler Stelle koordiniert.

Des Weiteren sieht das Papier der Bund-Länder-Arbeitsgruppe die Schaffung eines „gemeinsamen fachärztlichen Versorgungsbereichs“ vor. Dies bedeutet, dass Vertragsärzte und Krankenhäuser ambulante fachärztliche Leistungen nach den gleichen Regeln beziehungsweise unter denselben Voraussetzungen erbringen. Patienten sollen also die gleichen Leistungen durch Vertragsärzte wie durch Krankenhausmediziner erhalten. Ein Katalog von Leistungen mit Disziplinen, die dafür geeignet sind, legt nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe das Gesundheitsministerium per Rechtsverordnung fest. Die Leistungen sollen dann einheitlich vergütet werden. Je nach Schweregrad soll es Zuschläge geben, so dass Krankenhäuser mehr Interesse daran entwickeln könnten, stationäre Leistungen durch ambulante Leistungen zu ersetzen. Und das geht nur, indem man ihnen mehr Geld anbietet.

Ungewisser Erfolg.

Noch lässt sich laut Schliemann nicht erkennen, wie damit die Zusammenarbeit der Vertragsärzte mit den Krankenhäusern verbessert werden könne. „Wenn die niedergelassenen Ärzte die gleiche Leistung erbringen wie das Krankenhaus, haben sie zunächst kein größeres Interesse daran, mit der Klinik zusammenzuarbeiten“, gibt Schliemann zu bedenken.

Ein weiteres Kapitel im Eckpunktepapier der Arbeitsgruppe betrifft die Zusammenarbeit von Hausärzten und häuslicher Krankenpflege. Die Koordination der Patientenversorgung durch den Hausarzt und die Kooperation zwischen Arzt und Pflegediensten soll verbessert werden. Dies sei grundsätzlich zu befürworten, sagt AOK-Expertin Schliemann. Es sollte aber in Erwägung gezogen werden, auch weitere Gesundheitsfachberufe in eine kontinuierliche Betreuung der Patienten einzubeziehen.

Im vorliegenden Papier geht es um die ambulante Versorgung durch die Krankenhäuser.

Das Bund-Länder-Gremium verweist selbst darauf, dass die aufgeführten Maßnahmen den aktuellen Diskussions- und Arbeitsprozess widerspiegelten. Sie seien insofern nicht als abschließend zu betrachten. „Weiter zu bearbeiten sind zum Beispiel die haus- und fachärztliche Koordination insbesondere bei chronischen Erkrankungen, das Belegarztwesen und das Management von Schnittstellen zwischen den Sektoren“, hebt das Gremium hervor. Zudem gelte es, die sektorenübergreifende Kommunikation und Koordination zu verbessern.

Sektorengrenzen müssen fallen.

„Es geht jetzt darum, aus den Samen, die hier gesät worden sind, wirklich eine sektorenübergreifende Versorgung gedeihen zu lassen“, sagt Schliemann. Mit den Vorschlägen des jetzt vorliegenden Papiers gehe es der Arbeitsgruppe nicht in erster Linie um eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit der Beteiligten, die durch Kooperation, Kommunikation und Koordination geprägt sein sollte, damit für den Patienten ein zusätzlicher Nutzen entstehe. „Vielmehr macht die Bund-Länder-AG Vorschläge zur langfristigen sektorenunabhängigen Sicherstellung der ambulanten Versorgung und beschreibt ihre Vorstellungen, wie die ambulante Versorgung durch Krankenhäuser unter der Regie der Länder weiter ausgebaut werden soll.“ Über die Rolle der Vertragsärzte und der Krankenkassen sei in dem Papier wenig zu lesen, sagt Schliemann. Wünschenswert sei, dass die Planung und Sicherstellung der ambulanten Versorgung regional und durch die Selbstverwaltungspartner gemeinsam gelöst würden – unabhängig davon, durch welchen Sektor Versorgungsaufgaben übernommen werden. „Nur unter diesen Voraussetzungen schlägt die Arbeitsgruppe den richtigen Weg ein. Mit einer sektorenunabhängigen Versorgung lassen sich so die Sektorengrenzen überwinden.“

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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